Es gibt einige Orte in meinem Leben, die ich aus den verschiedensten Gründen immer mal besuchen wollte – und Schweden stand ganz weit oben auf der Liste. Schon als Kind wollte ich unbedingt einmal in den Norden. Klar: Pippi Langstrumpf, Bullerbü, Michel, ABBA und die ikea-eske Freundlichkeit sowie Silvia Sommerlath 1972 prägten meine Generation. Später kamen Maj Sjöwall und Per Wahlöö, Henning Mankells Wallander, Lisa Miskovsky, Anna Ternheim, Sophie Zelmani und Saga Norén noch dazu. Einmal mit dem Camper oder mit einem Volvo Kombi durch Schweden zu reisen, davon träumte ich viele Tage – doch ein Blick in meinen Geldbeutel ließ mich bislang andere Orte anvisieren.
Nachtfahrt nach Schweden
Im Lauf der Jahrzehnte segelte ich bis Kopenhagen, landete in Oslo, Skien und Tönsberg und guckte in Helsinki aufs Meer und Fußball dazu. Aber Schweden? Fehlanzeige. Bis ich im Frühling spaßeshalber auf Seiten der Deutschen Bahn nach Tickets checkte – und realisierte, dass eine Bahnfahrt über Kopenhagen nach Malmö zu diesem Zeitpunkt keine 60 Euro kostete. Ergo buchte ich mir ein günstiges Airbnb für ein paar Tage und freute mich wochenlang auf die Fahrt über die Öresundbrücke, die spätestens seit der Nordic-Noir-Serie „Die Brücke“ ein weiteres Objekt der Sehnsucht wurde. Und plötzlich verabschiedete ich mich nachts um 1:00 von Pia und wanderte mit meinen Siebensachen zur Haltestelle oberhalb des Nibelungenplatzes und fuhr ein bisschen zu früh Richtung Südbahnhof. Der Plan sah vor, kurz nach 2:00 Uhr durch die Nacht nach Hamburg zu rollen, um von dort nach Kopenhagen zu fahren und von dort wiederum nach Malmö.
Nachdem sich der übervolle Bahnsteig geleert hatte und die Leute in den mit 90-minütiger Verspätung einfahrenden Zug Richtung Berlin und Prag
eingestiegen sind, wartete ich müde in der Dunkelheit. Pünktlich setzte sich mein Zug aus der Schweiz kommend in Bewegung, in einem Wagon lagen die Leute quer auf den Sitzen und pennten – die Szenerie erinnerte eher an einen Flüchtlingstreck als an eine gepflegte Bahnfahrt. In meinem Waggon ging es hingegen gesittet zu – nur mein reservierter Platz war besetzt. Eine junge Frau, die Kapuze tief ins Gesicht geschoben, Kopfhörer auf den Ohren, lehnte an der Scheibe und pennte. Oder tat zumindest so. Ich setzte mich daneben. Da ich eh nicht aus dem Fenster schauen konnte war es mir egal. Das ältere Paar gegenüber wollte nach Hannover.
Wir rollten durch die Nacht, mal döste ich, mal wachte ich, Hanau, Göttingen, Hannover, Nienburg, Verden (Aller), Bremen, Harburg zogen vorüber. Vor Hannover graute der Morgen, ab Hannover setzte ich mich ans Fenster und ließ die frühen Stunden vorbei fliegen. Immer wieder verfiel ich in einen leichten Dämmer. In Hamburg hatte ich eine gute Stunde Zeit, also suchte ich zunächst am Hintereingang eine kostenlose Toilette auf, die mich bei meinem letzten Besuch ob ihrer Funktionalität schwer beeindruckt hatte. Diesmal allerdings war sie zum Würgen verschissen.
Ich drehte eine Runde, besorgte mir in einer kleinen Unterführung einen bezahlbaren Kaffee samt Franzbrötchen (im Bahnhof hätte ich auch das doppelte ausgeben können) und wartete bei Wiederkehr an den Gleisen auf die Weiterfahrt. Der Zug war pünktlich, Menschen schoben sich auf der Suche nach ihren Plätzen (Reservierung war Pflicht) aufgeregt durch die Gänge. Ich landete in einem 6er-Abteilung mit einer französischen Familie. Die drei Töchter, vielleicht 8, 10 und 12 Jahre alt waren fröhliche aber wohlerzogene Kinder, die Mutter vielleicht ein bisschen zu streng, der Vater eher ruhig. Sie ignorierten mich mehr oder weniger, ich hatte meine Ruhe, zog meine Kopfhörer auf, hörte Lake Geneva von Sophie Zelmani und rollte über die dänischen Inseln und den großen Belt in Richtung Kopenhagen. Das Land wirkte relativ eintönig, das regengrau tat ein Übriges, die Fahrt war angenehm unaufgeregt.
Von Malmö nach Palästina
In Kopenhagen hüpfte ich in einen früheren Zug als geplant, hoffte, dass dies in Ordnung ginge und war gespannt auf die Öresundbrücke – die ich allerdings kaum sah, da wir unter der Autospur hindurch rollten. Links und rechts Wasser, dazu die stützenden Querverstrebungen. Ich war erstmal enttäuscht, hätte es mir aber denken können. Hatte ich im TV jemals auf den Autospuren einen Zug fahren sehen? Letztlich stieg ich eine Station vor dem Bahnhof am Triangeln aus, spannte meinen Regenschirm, den mir Pia ans Herz gelegt hatte, auf und ließ mich per Navi Richtung Unterkunft leiten. Mit Schirm in der einen, Koffer in der anderen und dem Navi in der dritten Hand eierte ich zu Fuß durch Malmö, durch Möllevången, mein Viertel für die nächsten Tage. Multikulturell, viele Kneipen und Restaurants, noch nicht gentifiziert. Eigentlich genau wie ich es mag – allerdings hingen an vielen Fenstern Palästina-Fahnen – als Ausdruck von was? Solidarität? Mit den Opfern? Der Hamas? Solidarität mit den israelischen Geiseln sah ich nirgends. Auch nicht mit der Ukraine. Oder den Opfern im Sudan oder anderen Krisenherden. Wäre ich jüdisch, ich würde mich hier nicht zeigen wollen, ganz anders die Vertreter*innen des Islams. Das ist nicht fair. Das ist seit Jahrhunderten auf der ganzen Welt nicht fair.
Diese Gedanken beschäftigten mich während der ganzen Reise, und klar, die Kinder sind die leidtragenden. Aber man muss leider dazu sagen, dass diese Bilder des Elends gewollt sind. Nicht von Israel. Sonder von der Hamas, ihren Finanziers, um Israel in der Öffentlichkeit als das Evil zu inszenieren. Um das eigentliche Ziel, die Vernichtung Israels voran zu treiben. Ein Israel, dass nach der Shoa mehr als jede andere Nation das Recht auf Selbstverteidigung hat. Gegen einen vielschichtigen Aggressor, dem das Schicksal der eigenen Leute völlig egal ist. Schon immer gewesen ist. In Israel, mal unabhängig von Netanyahu und Konsorten, wäre der einzige Ort, an dem sich Juden sicher fühlen könnten. Dank der Hamas, dank dem 7. Oktober auch dort nicht nicht mehr. Nein, es ist nicht gut was in Gaza geschieht. Aber die einseitige Erzählung der Geschichte, basierend auf der Hamas-Propaganda ist nicht die wirkliche Erzählung. Und dass sich Linke mit dieser Erzählung gemein manchen, ist absurd, gipfelnd in Queers for Palästina. Ihr Narren.
Meine Unterkunft liegt in einem mehrgeschossigen Haus, als ich dort bin, kommt Patrcio runter und zeigt wie der Eingang funktioniert. Theoretisch gäbe es drei Eingänge, praktisch fahren wir in einem Innenhof mit dem Fahrstuhl in die fünfte Etage. Ich bin müde, verwirrt und kaputt nach der langen Reise. Patricio wohnt auch in der Wohnung, mein Zimmer ist groß genug auch für zwei, ebenso das Bett. Ich bedanke mich und mache mir einen Tee und lege mich aufs Bett. Hallo Malmö.
Die Öresundbrücke
In der Nahverkehrsapp Skånetrafiken checke ich die Verbindung in Richtung der Öresundbrücke und stelle fest, dass es vom Platz unten eine direkte Verbindung bis zu einem Aussichtspunkt gibt, von dem der Blick ein schöner sei. So besorge ich mir ein 24 Stunden-Ticket für 64 schwedische Kronen und wandere vor zum Möllevångstorget. Dort nehme ich den 14er Bus und fahre durch Malmö, passiere ein Stadion, schaukel durch Vororte bis zur Strandengatan. Zwei Haltestellen vor der Endstation steige ich aus – und blicke auf den Öresund. Linker Hand zieht sich die Brücke mit den markanten Spitzen und verschwindet winzig klein im Wolkengrau der Ferne nahe Dänemark. Ein erhabener Anblick.
Jetzt ist wenig los. Von einem Steg, der ins Wasser führt, springen Menschen zum Baden ins Meer, der vergangene Regen hängt noch über der Szenerie – und meinen Gedanken nachhängend schlendere ich weiter Richtung Brücke, vorbei an Kajakverleih und Rettungsringen. Ich passiere einen Campingplatz voller Wohnmobile, die hier dicht an dicht stehen und folge einem Weg, der mich zu einer Aussichtsplatform führt. Vereinzelte Touristen stehen hier und fotografieren. Just als ich mich nähere, fährt unten ein belgischer Reisebus auf den Parkplatz und spuckt eine Reisegruppe fröhlicher Senioren aus, die wenig später oben einlaufen und die beste Fotoposition suchen. Vorbei ist’s mit der Ruhe. Aber ich habe mir einen weiteren Lebenstraum erfüllt. Wenn auch die Fahrt über die Brücke kein Highlight war, die Nähe hier ist es auf jeden Fall.
Das Bistro am Campingplatz ist relativ teuer, so dass ich mit dem 14er Bus wieder zurück an den Möllevångstorget fahre und dort in einer Pizzeria einen Ćevapčići-Burger bestelle. Im Supermarkt ein paar Schritte weiter hole ich mir noch Proviant und spaziere am Folketspark vorbei gemütlich in die Unterkunft. Doch weder durch Eingang eins noch durch Eingang zwei komme ich zum Fahrstuhl. Ich laufe die Treppen nach oben – und lande im vierten Stock. Ich muss aber in den fünften. Der über dieses Treppenhaus nicht zugänglich ist. Also geht es per pedes wieder nach unten. Im nächsten Treppenhaus geht es wieder zu Fuß nach oben. Ich lande vor meiner Wohnungstür. Gegenüber grinst mich die Fahrstuhltür an. Ich bin verwirrt. Leider wird das Spiel England Italien nicht im schwedischen TV übertragen und ZDF klappt auch nicht. So höre ich die Radioreportage auf WDR und schlafe todmüde ein. Dass England durch ein Tor kurz vor Schluss gewinnt, bekomme ich gar nicht mehr mit.
Gamla Staden
Früh am Morgen entdecke ich das Geheimnis des Aufzuges: Er befindet sich im Innenhof des dritten Eingangs. Hatte ich in meiner Mattigkeit bei Ankunft nicht wirklich abgespeichert. An der Ecke befindet sich ein antifaschistisches Zenntrum, auch hier alles voller Palästina-Solidarität oder besser Israelhass. Ich verklebe einen von Sonnys Stickern und nehme einen Bus, der mich über den Hauptbahnhof an den Öresund bringt. Hinter mir ragt das neueste Wahrzeichen Malmös in die Höhe: der Turning Torso, vor mir liegt das Wasser – und im Wasser ein kleiner Leuchtturm. Nebenan versucht ein Angler sein Glück. Ich schlendere den Uferweg entlang und bin mehr oder minder allein. Ein Regenschutt überrascht mich just, als ich mit Pia telefoniere, doch ich habe Glück und kann mich unterstellen. Dann klart es auf. Im Hintergrund erhebt sich ein neueres, gehobenes Wohnviertel in Västra Hamnen, dem westlichen Hafengebiet von Malmö – doch es wirkt nicht ganz so steril wie vergleichbare Ecken in Frankfurt etwa am Westhafen. Aber es ist hie wie dort nichts für den überschaubaren Geldbeutel. Ich trinke einen Espresso mit Blick auf den Öresund und laufe weiter bis zum Kanal. Dort verlasse ich das Ufer und schlendere an Wasserwegen entlang durch einen weiträumigen Park, in dem eine Windmühle Fotograf*innen lockt – bis ich an einer Falafelbude raste und mich dann weiter am Kanal in die Altstadt (Gamla Staden) aufmache. Den Weg durch die Stadtmitte hebe ich mir für den Mittag auf. Es ist mittlerweile recht sommerlich. Malmö ist eine Fahrradstadt, breite Radwege zwingen auch den Fußgänger zur Vorsicht. Aber in all der Zeit schien mir der Umgang miteinander recht gelassen.
Und so treibe ich wenig später durch Malmös Fußgängerzone. Am großen Platz werden Kinder mit einem Theaterstück bespaßt – Sommertreiben auf den Straßen, die Menschen treiben durch die Gassen, sitzen in Cafés oder essen Eis. Erschreckend teuer ist das Porto für ’ne Postkarte – fast fünf Euro wollen sie hier dafür haben. Weiter hinten sammeln sich Menschen, um für Freiheit für Palästina zu demonstrieren. Teddybären liegen auf einem Tuch, ein Mann bestreicht sie mit roter Farbe. Eine junge Schwedin dekoriert mit einem Kind das Grauen symbolisierende – pittoresk. Durch den Folkets Park wandere ich nach Hause, Kinder spielen – ein städtisches Idyll, in dem Muslime und Schweden und beides in einem friedlich zusammenleben – so will es scheinen. Am Abend verlieren die deutschen Frauen unglücklich in der Verlängerung gegen Spanien, ich kann das Spiel im Fernseher schauen. Es ist der Tag nach Ozzy Osbournes Tod.
Ystad
Einmal auf den Spuren Wallanders wandeln – auch dies war ein Lebensträumchen und heute sollte es es soweit sein. An der Info im Bahnhof erfahre ich, dass das 24 Stunden Ticket bis Ystad für die gesamte Region gilt und nicht nur für die Hin- und Rückfahrt. So fahre ich fröhlich in einem der lila Züge eine gute dreiviertel Stunde durch Schonen, bis ich im Bahnhof von Ystad lande. Mein erster Weg führt mich zur Touristeninfo. Auf dem Platz davor fehlt das Y bei den großen Buchstaben, so dass in gelben Lettern nur STAD in der Sonne leuchtet. In der Touristeninfo besorge ich mir einen Stadtplan als mein Blick auf ein orangenes Plakat mit Ankündigungen fällt. Und ich lese mit Sophie Zelmani im Ohr, dass diese heute in Löderup auftreten wird. Was auch immer das heisst. Karten sind noch online erhältlich – und ein Bus würde mich von Ystad binnen 45 Minuten in den Ort bringen. Und spätestens um 22:37 wieder zurück. So besorge ich mir ein Ticket, freue mich auf das Abenteuer heute Abend und wundere mich, wie sich manchmal die Dinge fügen.
Ich lade mir eine „Wallander App“ herunter, mit deren Hilfe ich auf den Spuren Wallanders durch Ystad navigieren kann, auf dem Platz bricht eine Gruppe zu einer öffentlichen Führung auf und mir wallandert es gerade ein bisschen zu viel. So beschließe ich, das Theater aufzusuchen, das in der Verfilmung Die Cellospielerin eine tragende Rolle spielt, um mich anschließend treiben zu lassen. Ystad in wirklich putzig, geprägt von kleinen bunten Häuschen und Blumen vor den Türen; einem Marktplatz auf dem bei einer Promoaktion zuckerfreier Schweppes in Dosen verteilt wird und einer Fußgängerzone mit allerlei Tand im Angebot. Ich such noch Wallanders einstige Wohnung in der Mariagatan 10 auf – doch suche ich den Namen Wallander vergeblich an der Klingel. Stimmt, er wohnte ja am Ende in … Löderup, wo heute Abend Sophie Zelmani konzertieren wird. Das ist doch alles kein Zufall mehr.
Bei Nong’s Wohnwagen-Thai-Imbiss besorge ich mir ein Pad Krapao und komme mit einem älteren Schweden ins Gespräch. Er spricht gut Deutsch, hatte eine Freundin in Lindau (Sie ist verheiratet und sie sehen sich jetzt seltener) und neulich in Wetzlar seine Leica-Kamera reparieren lassen. Seltsam, alle Deutschen finden Schweden Lagom – aber niemand spricht schwedisch.
Ich drehe noch eine Runde durch die Gassen Ystads und drehe dann ab Richtung Ostsee. Wenn ich hier ins Wasser falle würde, käme ich auf der anderen Seite in Usedom an. Ich ziehe es vor, in Schweden zu bleiben und wandere langsam vor zum Bahnhof. Von dort fährt der Bus nach Löderup. In jedem Bus finden sich USB Anschlüsse, auch in Malmö kannst du dein Handy im Bus laden. Wir fahren los, vorbei am Campingplatz Ystads, weiter die 9 entlang, im Hintergrund blitzt die Ostsee durch, bis die Straße abbiegt und wir übers Land fahren. Löderup ist ein kleiner Ort, um die 600 Menschen leben hier. Da ich gut in der Zeit bin, steige ich noch nicht aus, sondern fahre weiter bis zur Endstation in Simrishamn im Südosten und schaue mich ein bisschen um. Auf dem Rückweg erwische ich aus Versehen den falschen Bus – der zwar auch nach Ystad fährt, aber eben nicht über Löderup. Aber es gibt einen Knotenpunkt und so steige ich auf der Landstraße aus, wechsele die Straßenseite und nach wenigen Minuten kommt der gewünschte Bus und bringt mich ans Ziel.
Sophie Zelmani in Löderup
Der Ort ist wirklich überschaubar. Ein Auto überholt mich zögerlich – es scheint, als hielten die Insassen Ausschau nach der Location, die laut meinem Navi 300 Fußmeter von der Haltestelle entfernt liegen muss. Ich biege nach ein paar Metern in die nächste Straße ein, eher ein besserer Feldweg, der geradewegs ins Feld führt. Vor dem letzten Haus parken einige Autos. Ich laufe weiter und blicke auf ein schmiedeeisernes Tor mit Plakaten. Dahinter stehen zwei Männer an einem Holzkohlegrill, daneben ein alter Wohnwagen. Im Garten sitzen Menschen an Tischen. Ich habe Bullerbü gefunden.
Das Konzert findet in einem dahinterliegenden Gebäude statt. Die Bühne ist bereits mit Instrumenten bestückt, verschiedene Tische und Stühle stehen kreuz und quer im Raum, in einer Ecke werden Lebensmittel und Getränke verkauft – das Ganze hat den Charme einer schwedischen Dorfschule. Ich bin entzückt. Am Grill hole ich mir eine Bratwurst, die ich drinnen mit Karte zahlen kann, trinke ein alkoholfreies Bier dazu und bin gespannt, ob es eine Vorband gibt – immerhin sollte ich den letzten Bus nach Ystad erwischen. Ich setze mich in die zweite Reihe. Punkt 20:00 Uhr betritt ein einheimischer Ansager die Bühne, hält eine kurze Ansprache und bittet um einen warmen Applaus für … Sophie Zelmani. Ich werde das Konzertende erleben und pünktlich an der Haltestelle sein – Zelmani ist nicht Springsteen. So viel ist sicher.
Zuerst betritt die Band die Bühne, dann kommt Sophie in einem blauen Kleid und Cowboystiefeln. Die Musik ist vorwiegend ruhig: Gitarre, Schlagzeug und Bass – von Zeit zu Zeit greift auch Zelmani zur Gitarre. Dreamer, Travelling, Songs aus ihrem letzten Album wie Back to the Sea oder Lake Geneva, dazu Going Home – ein Potpourri aus den letzten 30 Jahren wird unaufgeregt zelebriert, garniert von Ansagen, die – im Gegensatz zum Karlsruher Konzert vor zwei Monaten – diesmal wenig verwunderlich auf Schwedisch sind. Das Publikum goutiert es, ich ebenso. Nach einer Zugabe und 100 Minuten Spielzeit ist der Zauber vorbei. Sophie und die Musiker unterhalten sich mit den Gästen – ich hingegen werfe einen letzten bewundernden Blick auf das Szenario und verlasse das Gelände.
Die Wartezeit an der Bushaltestelle in Löderup wird digital angezeigt. Mit mir warten ein paar Jugendliche auf den letzten Bus, der pünktlich anrollt und mich in der schwedischen Nacht verschwinden lässt. Auch die violette Bahn in Ystad ist pünktlich, sodass ich kurz nach Mitternacht in Malmö einfahre und einen kurzen Busride später vor meiner Haustür stehe. Das war ein schöner Tag in meinem Leben.
Zurück in Malmö
Am letzten Tag in Malmö setze ich mir drei Ziele, die mich allesamt ein wenig enttäuschen. Das Malmöhus, also das Schloss, sieht von außen zwar imposant aus – im Innenhof macht es jedoch nicht viel her. Wer weiß, wie das dazugehörige Museum leuchtet; ich spare mir den Eintritt und suche stattdessen die relativ neue Markthalle auf – eine weitere Enttäuschung. Ein paar Stände, relativ teuer, in einem unspektakulären Bau – das war’s. So treibe ich durch die City und den Park Richtung Unterkunft. Im Park ist alles für das abendliche Konzert von Alphaville vorbereitet. Schwarze Stoffbahnen an den Absperrungen sollen nicht zahlenden Zuhörer*innen den Blick auf die Bühne verwehren. Eine Karte kostet knapp 50 Euro – so klasse finde ich die Band nun auch wieder nicht.
Zuhause packe ich meine Badehose und ein Handtuch ein und fahre mit dem Bus hinaus an den Malmöer Strand – den Ribersborgsstranden, oder Ribban, wie die Einheimischen sagen. Während vorgestern kaum jemand am Ufer des Öresund unterwegs war, bietet sich nun ein völlig anderes Bild. Schon auf den Parkplätzen drehen Wohnmobile ihre Runden auf der vergeblichen Suche nach einer Lücke. Am Strand und auf den Stegen wimmelt es von Menschen. Kinder hüpfen jauchzend ins Wasser – damit hatte ich Naivling nicht gerechnet. Also nehme ich den nächsten Bus zurück, doch auch dort, wo ich vorgestern noch in aller Seelenruhe meinen Espresso trank, herrscht nun Halligalli. Sogar der eine oder andere Porsche parkt jetzt mit offenem Kofferraum auf den Wegen.
Immerhin finde ich nach einem kurzen Spaziergang einen ruhigen Platz auf den Steinen neben dem Weg – mit schönem Blick auf das glitzernde Wasser. Die Menschen auf dem Steg erscheinen als stumme Silhouetten, am Horizont zieht sich die Öresundbrücke nach Kopenhagen.
Am Abend habe ich zwei Möglichkeiten zur Auswahl. Einerseits könnte ich in den Park gehen und Alphaville lauschen – entweder vor der Absperrung oder jetzt für etwas über 30 Euro dahinter. Andererseits könnte ich auch noch einmal an den Ort fahren, wo am Dienstag alles begann – nah an der Brücke. Ich entscheide mich für Letzteres, nehme nach einem Imbiss den Bus und fahre wie neulich Richtung Campingplatz. Zwei Stationen vorher steige ich aus. Doch wo ich eben noch quasi allein unterwegs war, erweist sich diese Stelle am Ufer nun als Hotspot der muslimischen Community Malmös. In großen Gruppen sitzen Frauen mit Kopftüchern mit ihren Kindern beisammen, daneben die Männer. Von Zeit zu Zeit ziehen Qualmwolken und der Geruch von Gegrilltem über die Wiese.
Ich werfe auf einem Steg letzte Blicke auf die Brücke – doch als sich meiner Einsamkeit schnatternd zwei Männer nähern, kehre ich um und nehme am Campingplatz den Bus zurück. Nur wenige Menschen steigen hier ein. Das ändert sich an der nächsten Station. Eine große Gruppe Kinder entert schreiend den Bus, die Mütter – religiös eindeutig identifizierbar – folgen. Telefonate, Filme über Lautsprecher: Action. Später steigen einige Schwed*innen dazu. Irgendwann gerät eine ältere Schwedin mit einer jungen Muslima aneinander. Unter der freundlichen Oberfläche brodelt es – doch es eskaliert nicht. Peu à peu leert sich der Bus.
Schon vor dem Park dringen die Töne des Konzerts an mein Ohr. Rund um die Absperrung sitzen die Malmöer*innen einzeln oder in Gruppen, trinken Wein oder Bier, rauchen und lauschen der Musik. Ich stelle mich dazu, erhasche einen Blick über die Absperrung und ziehe mich dann etwas abseits zurück. Die Musik gefällt nicht nur mir: Als kurz vor Ende Sounds Like a Melody und Forever Young angestimmt werden, kennt die Begeisterung keine Grenzen. Handys werden gezückt, Tänze getanzt – während die Sonne langsam versinkt und sich die Nacht über die Stad legt. Als ich im Dunkeln durch den Park schlendere, erkenne ich die bunte Nachtbeleuchtung. Neonherzen weisen den Weg – so hat der Tag doch noch eine freundliche Wendung genommen.
Die Heimfahrt. Bis Kassel ganz okay.
Mein Gepäck hatte ich schon am Abend zuvor gepackt. Jetzt werfe ich die restlichen Habseligkeiten in meinen kleinen orangenen Rollkoffer,
lege den Schlüssel auf den Küchentisch und mache mir noch einen letzten Tee. Dann ziehe ich – etwas zu früh – die Tür ins Schloss, besorge mir im Coop noch etwas Reiseproviant und mache mich auf den Weg zum Bahnhof. Eine Bahn früher als geplant rausche ich erneut über die Öresundbrücke nach Kopenhagen, drehe dort noch eine kleine Runde und sitze pünktlich im Zug nach Hamburg. Da ein anderer Wagen als geplant als Wagen 8 geführt wird, fällt meine Reservierung am Tisch flach. Also setze ich mich auf meinen reservierten Platz Nummer 32. Eine junge Frau setzt sich neben mich – dann kommt die Durchsage, dass alle Reservierungen aufgehoben sind. Wir verteilen uns im recht leeren Wagen auf genehmere Plätze. Ich höre Musik und blicke auf den Großen Belt. Kurz vor Deutschland steigt eine Familie zu und beharrt auf ihren reservierten Plätzen im falschen Wagen. Ich setze mich um.
Von vornherein war meine geplante Rückreise geändert worden – der Zug fährt nicht bis zum Hamburger Hauptbahnhof, sondern nur bis Altona. Die Zugbindung war aufgehoben. Es besteht jedoch die Möglichkeit, trotz der S-Bahn-Fahrt von Altona, den Zug nach Frankfurt pünktlich zu erreichen. Alternativ würden jeweils ein und zwei Stunden später noch Züge fahren. Ich sah mich gedanklich schon bei Schorsch in St. Pauli eine Currywurst essen. Doch pünktlich auf die Minute rollen wir in Altona ein. Die erste S-Bahn verpasse ich, die zweite nimmt mich mit, zuckelt ein bisschen zu langsam Richtung Bahnhof. Ein Halt. Ein Sprint. Geschafft. Ich sitze auf meinem Platz im Zug, eine Mutter mit zwei Kids um mich herum, und ich frage mich, weshalb es mir so selten gelingt, einen Platz mit einem normalen Fenster zu reservieren. Wieder besteht ein Viertel des Fensters aus grauer Wand.
Hannover, Göttingen, Kassel – die Fahrt verläuft reibungslos. In 90 Minuten werde ich in Frankfurt sein. Geplante Ankunft: 19 Uhr. Doch die Ansagen machen mich stutzig. Hier Personen auf der Fahrbahn, dort ein Noteinsatz. Phasenweise geht nichts mehr. Dann eine Umleitung. Zwei Stunden später bin ich in Darmstadt-Kranichstein. Schon länger wird kostenloses Wasser verteilt, Menschen schleppen das Zeug kistenweise durch den Zug. Egelsbach.
Um 21:18 Uhr, 138 Minuten nach der geplanten Ankunft, steige ich aus – und hasse die Bahn. Die Züge, die eine bzw. zwei Stunden später aus Hamburg losgefahren sind, rollen mehr oder minder zeitgleich ein. Ich nehme die U4 bis zur Konstablerwache, springe in die ankommende 12 und ratter ins Nordend. Als sich die Tür öffnet, blicke ich in Pias lachendes Gesicht. Ich bin wieder zu Hause. Und habe sie vermisst.




















