Kaum waren wir im vergangenen Jahr von unserer Pragreise zurück, buchten wir erneut die Unterkunft und die Zugfahrt für dieses Jahr – fast zur gleichen Zeit. Warum? Eigentlich war die ursprüngliche Idee damals, das Konzert von Bruce Springsteen in Prag zu besuchen, das schließlich wegen Krankheit abgesagt wurde. Da uns ein Pragbesuch jedoch weiterhin reizvoll erschien, machten wir die Reise trotzdem und erlebten ein Konzert der Interrupters. Kurz darauf wurde der Ersatztermin für das ausgefallene Springsteen-Konzert in Prag bekannt gegeben.
Und so kam es, dass wir in den frühen Morgenstunden des 12. Juni wohlgemut in Richtung Hauptbahnhof rollten. Der eigentliche Plan sah vor, dass wir mit dem 58-Euro-Ticket nach Nürnberg reisen wollten, um nach zwei Nächten weiter nach Prag zu fahren. Da uns jedoch aus vorhergehenden Bahndesastern ein Reisegutschein über 25 Euro zur Verfügung stand, buchten wir die Reise nach Nürnberg im ICE. Natürlich starteten wir schon aus Frankfurt mit erheblicher Verspätung – da wir jedoch keinen Anschlusszug erwischen mussten, nahmen wir es halbwegs locker. Es ist schon unglaublich, was sich die Bahn alles leistet. Die Rückfahrt aus Prag wurde ja schon Wochen bevor es losging gecancelt, und wir buchten uns auf eine Alternative ein – ohne einen Sitzplatz zu reservieren, da dies zwar vorgeschrieben, aber nicht möglich war.
In Nürnberg hatten wir für die beiden Übernachtungen Gutscheine für das a&o Hostel am Bahnhof ergattert, sodass uns die Nacht pro Person keine 10 Euro kostete. Wir waren gespannt, was uns erwartete. Zunächst durften wir unsere Koffer im hauseigenen Abstellraum abstellen, sodass wir bis zum Einchecken unbeschwert durch die Stadt schlendern konnten. Die Sonne schien freundlich auf uns herab, und wir spazierten durch die Stadtmauer, vorbei an Kirchen und Eiscafés, bis hoch zur Kaiserburg, überblickten Nürnberg und wanderten am Dürerhaus und der Pegnitz vorbei zum Hostel, um dort einzuchecken. Der Eingangsbereich bot Billard und Tischfußball, einige Gäste, meist jugendlich, lungerten im Foyer herum, und wir nutzten den Self-Check-in, wobei uns beim Einlesen der Karte ein Angestellter half. Wenig später waren wir in unserem Zimmer – klein, aber sauber, mit einer ebenso kleinen wie sauberen Dusche. Der Blick aus dem Fenster fiel auf den Busbahnhof, aber durch das geschlossene Fenster hielt sich der Lärm in Grenzen. Kein Luxus, aber völlig okay, vor allem für den Preis.
Letztes Jahr war ich ja schon einmal in Nürnberg, daher erinnerte ich mich an eine kleine Wirtschaft, die wir damals aufgesucht hatten und die uns trefflich bewirtet hatte. So auch diesmal – es war erstaunlich wenig los, aber sehr nett und lecker. Anschließend wollten wir mit der Straßenbahn zum Dutzendteich fahren, doch unterwegs fiel unser Blick auf ein Plakat mit dem Hinweis auf ein Afrika-Festival, und spontan verließen wir die Bahn. Wenig später ratterten wir in die andere Richtung zum Westfriedhof. Nach ein paar Metern Fußweg erreichten wir das Gelände unter der Theodor-Heuß-Brücke.
Auf einer Bühne unter der Brücke probte eine Band, weiter hinten gab es Speisen und Getränke. Leider waren die Gerichte auf Papptellern zwar nett anzusehen, aber sehr teuer. Wir waren jedoch satt und trieben uns über das Gelände mit den weißen Zelten und bunten Klamotten. Interessant war das Zelt von Kofaya, die nachhaltige Kleidung produziert und auf die Lebenssituation der Schneiderinnen in Ghana aufmerksam machte – und davon abriet, die Kleidercontainer zu nutzen, da ein Großteil der Kleidung nach Afrika geht und dort den heimischen Markt überschwemmt. „Kauft weniger – und wenn, dann lokal und nachhaltig“, so die klare Botschaft. Etwas später begann das Konzert: Afrikanischer Reggae von Kim Azas & Band. Wir wippten fröhlich mit und freuten uns mit der singenden Tänzerin des Lebens. Es war genau das Richtige zum Abschluss des ersten Reisetages. Zufrieden rollten wir zurück ins Hostel.
Am folgenden Tag frühstückten wir um die Ecke und fuhren dann mit der Bahn zum Reichsparteitagsgelände. Wir standen im unvollendeten Kongressbau, umrundeten den Dutzendteich und spazierten am derzeit renovierten Zeppelinfeld samt Zeppelintribüne vorbei. Heinz Rudolf Kunze hatte darüber schon 1981 gesungen:
In den Parteitagsgeländeruinen
spielt die deutsche Jugend Schaumgummisquash,
ab und zu spielt auch die Who, und das Ganze heißt Zeppelinfeld.
Jeden Sommer entbieten Volksgenossen
von der Tribüne ihren deutschen Gruß,
wenn die Busse kommen mit den Touristen aus Israel.
In des Führers Kongreßhalle sitzt jetzt
eine Schallplattenfirma, und dazu
ist dort das Polizeidepot für beschlagnahmte Autos zu sehen.
Wenn ich richtig informiert bin,
soll in diesem Polizeidepot
der gesamte Wagenpark der Wehrsportgruppe Hoffmann stehen.
Der Wagenpark war längst geräumt, heute wird dort für die städtischen Bühnen gebaut. Doch mit diesem Ohrwurm im Kopf nahmen wir bei Gutmann am Dutzendteich einen Imbiss zu uns, tranken ein wunderbares alkoholfreies Bier von Landwehr-Bräu und fuhren mit der nächsten Bahn: erst zum Mahnmal gegen den Faschismus, dann in die Stadt, wo wir über das Ehekarussell staunten, um später an der Henkersbrücke einen Milchkaffee zu trinken. Auf den gegenüberliegenden Stufen ließ es sich trefflich chillen. Das dachte sich auch die Gang 16-jähriger Teenies und ließ Prosecco aus kleinen Flaschen kreisen. Unbeirrt floss die Pegnitz ihres Wegs. Abends wanderten wir nach dem Essen hoch zur Burg und blickten noch einmal über die Stadt. Am Fuß der Burg freuten sich Einheimische und Touristen bei einem fränkischen Bier des Daseins, das Stimmengesurre am milden Abend war vom Feinsten.
Prag
Am folgenden Morgen wartete Prag auf uns, doch wie immer spielte die Bahn nicht mit. Eine kurzfristige Planänderung machte es uns unmöglich, den Anschlusszug in Schwandorf zu erreichen. Also sprinteten wir los, um einen früheren Zug zu erhaschen – was auch in letzter Minute gelang. Wenn alles gut ging, würden wir den Pragzug noch in Regensburg erwischen. Aber natürlich ging nicht alles gut. Wir verdämmerten die Zeit schon stehend am Nürnberger Bahnhof, wie auch die Reisegruppe mit Frikadellengelage und Boomermoves. Als wir loszöckelten, war klar, dass wir in Regensburg zwei Stunden Aufenthalt haben würden. Durch diese Verzögerung waren es letztlich nur anderthalb, die wir an einem Milchpilz verbrachten – einem der letzten acht in Deutschland. Milchpilze sind klasse, sie dürfen einfach nicht aussterben.
Irgendwann (nachdem ich auf den Treppenstufen vor dem Bahnhof sitzend vertrieben wurde) ging es dann doch weiter. Wir saßen wie früher in einem Sechser-Abteil, teilten Essen mit einer indischen Familie und rollten zwei Stunden später als geplant am Prager Hauptbahnhof ein. Von dort ging es mit der Straßenbahn in die Unterkunft auf der Kleinseite, dort, wo wir auch letztes Jahr wohnten. Wir bekamen sogar das gleiche Zimmer.
Nach ersten Wegen in Richtung der von Besuchern überquollenen Karlsbrücke und Altstadt nahmen wir eine Straßenbahn und ratterten quer durch die Stadt. In Smichov fanden wir ein ansprechendes Kellerrestaurant und somit erst einmal Ruhe bei Svíčková und Veggieburger. Da der Aufzug auf den Prager Hausberg Petřín bis auf Weiteres geschlossen war, kämpften wir uns anschließend die Treppenstufen nach oben und wanderten durch Park und Kloster bis hin zur Burg, die in den Abendstunden wenig besucht war. Sogar die goldene Gasse zeigte sich nahezu menschenleer. Die gleiche kenntnisreiche Verkäuferin wie im vergangenen Jahr versuchte diesmal erfolglos, mir im Kafka-Häuschen ein Büchlein zu verkaufen. Mit einem Eis in der Hand und später einem alkoholfreien Dosenbier ging ein ereignisreicher Tag zu Ende. Und ein weiterer sollte folgen.
Zunächst fuhren wir morgens Richtung Vinohrady und entdeckten nach dem Frühstück tatsächlich einen Weinberg. Dann spazierten wir zum Grab von Bedřich Smetana zum Vyšehrad. Dass Bruce Springsteen in der Stadt weilte, merkte man an allen Ecken und Enden: eine Menge T-Shirts wurden spazieren getragen – und am Hotel Four Seasons warteten sogar Autogrammjagende auf ihren Helden. Wir trieben durch Josefov, Jugendliche hockten in Reih und Glied vor den Synagogen, und wir nahmen Kurs auf das Mittagessen, um uns anschließend ein bisschen auszuruhen. Schließlich wartete am Abend der Boss auf uns – und dies könnte erfahrungsgemäß etwas länger dauern.
Als es an der Zeit war, brachen wir auf zum Flugplatz Prag-Letňany – dem Ort, an dem heute Bruce Springsteen auftreten würde. Die Metro Linie C füllte sich ab der Station Muzeum zusehends – und die allermeisten Mitfahrenden hatten das gleiche Ziel. Wir folgten an der Endstation Letňany, für uns eher untypisch, dem Strom der Menge und erreichten nach wenigen Metern den Einlass zum Gelände, das schon ordentlich gefüllt war. Endlose Schlangen am Merch und an den Toiletten. Wie viele Besucher letztlich dabei waren, ist schwer zu sagen, aber es könnten um die 75.000 Menschen gewesen sein, die auf dem riesigen Gelände den Boss feierten. Wir hockten uns weiter hinten aufs trockene Gras mit schönem Blick auf die… Leinwand. Unablässig strömten die Menschen aus allen Richtungen auf den Flugplatz, füllten die Tribünen, die noch weiter von der Bühne entfernt waren. Die Sonne brannte.
Kurz vor dem offiziellen Beginn donnerte es und die E Street Band betrat die Bühne, dazu etliche andere Musiker:innen. Als letzter kam Springsteen auf die Bühne – und nach einer kurzen Begrüßung rockte der „Summertime Blues“, gefolgt von der nunmehr obligatorischen Ansage für die Freiheit und gegen die aktuelle Politik Amerikas – und „Land of Hope and Dreams“, dem Motto der diesjährigen Tour. Dann ging es Schlag auf Schlag: „Death to My Hometown“, „Lonesome Day“, „My Love Will Not Let You Down“, „No Surrender“, „Rainmaker“. Bei den ersten Takten von „Rainmaker“ begann es tatsächlich zu regnen. Wer hatte, packte seine Regenklamotten aus, der Rest verharrte im Shirt. Winzig klein gab sich Springsteen auf der Bühne, hochseriös in weißem Hemd und roter Krawatte. Mal rockten die drei Gitarristen (Nils Lofgren, Steven van Zandt und Springsteen), mal wirbelte Max Weinberg an den Drums, mal zeigte sich Jake Clemons, der Neffe des Big Man, am Saxophon, stoisch Gary Tallent am Bass. Bei „Hungry Heart“ und „The River“ sangen alle mit, und immer wieder der Hinweis auf die gefährliche Lage in Amerika – ohne den Namen des inkompetenten und korrupten Clowns zu nennen. Nach knapp zwei Stunden, nach den grandiosen „Badlands“ und „Thunder Road“, war kurz Schluss, dann folgte die Zugabe – länger als so manches Konzert einer anderen Band: „Born in the USA“, „Born to Run“, „Bobby Jean“, „Dancing in the Dark“ – der schiere Wahnsinn. Bei „Tenth Avenue Freeze-out“ zogen Bilder der schon lange verstorbenen einstigen E Street Band-Mitglieder Danny Federico und Clarence Clemons über die Leinwand, doch Schluss war immer noch nicht. Erst mit Dylans „Chimes of Freedom“ senkte sich der imaginäre Vorhang und beendete einen herausragenden Abend. „This train carries saints and sinners – this train carries losers and winners – this train carries whores and gamblers – this train carries lost souls…“
Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen. Pia schenkte mir bei einem fliegenden Händler, der mit dem Auspacken nicht hinterherkam, noch ein Shirt, das ich gleich anzog, während ich mein feuchtes in meinem Beutel verstaute. Wir erwischten beim gut organisierten Abgang flott eine U-Bahn und rollten dicht gedrängt schwitzend in die Stadt. Dann wanderten wir noch einmal über die nächtliche Karlsbrücke und tranken eine Dose alkoholfreies Bier auf den Boss, seine Band und die weisen Worte.
Am folgenden Morgen checkten wir aus, warteten am Prager Bahnhof auf unsere Bahn, die erst eine gute halbe Stunde später abfuhr, setzten uns dann auf zwei freie Plätze und ließen Tschechien mitsamt der Elbe an uns vorbeiziehen. Eine kurze Aufregung, als unsere Tickets kurz vor der Grenze kontrolliert wurden und wir keine Sitzplatzreservierung nachweisen konnten, aber die sichtlich erschütterte tschechische Kontrolleurin drückte ein Auge zu, warnte uns jedoch vor einer eventuellen erneuten Kontrolle auf deutscher Seite – die allerdings nicht kam. Dummerweise reservierten wir dann noch zwei Plätze zwischen Bad Schandau und Dresden, was gar nicht mehr nötig war. Die Sächsische Schweiz zog an uns vorüber – schöne Landschaft, fürwahr – aber bei den AfD-Raten im Land gab und gibt es es für keinen Raum zum Aussteigen. In Dresden hatten wir eine gute Stunde Aufenthalt – Zeit für Kaffee und Gebäck – dann rollten wir ohne Zwischenfälle nach Frankfurt.
Mittwochabend hatte ich dann die Gelegenheit, dem Frankfurter Konzert von Springsteen beizuwohnen. Wie klein kam mir doch unser Stadion im Vergleich zum Prager Flugplatz vor. Ich fühlte mich fast wie bei einem Clubkonzert. Aber nur fast. Es war aufgrund der relativen Nähe vielleicht noch einen Hauch intensiver als in Prag. Und es hat nicht geregnet. No retreat, Baby, no surrender.