Es ist lange her, dass ich einmal in der Hansestadt Lübeck zu Gast war – ich schätze, Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrtausends. Die Mauer wackelte gerade, Willy Brandt lebte noch, und ich begleitete meinen Freund Frank in seine Heimat. Wir zuckelten mit meinem altersschwachen 77er C-Kadett-Kombi in den Norden, und ich tötete auf einem Angelausflug meinen ersten Hering, den Franks Mutter briet und wir verspeisten. Seither hat sich viel verändert. Willy Brandt ist tot, aber mit Frank habe ich immer noch Kontakt.

Diesmal waren wir nicht mit dem Pkw unterwegs, obwohl sich unser Dacia nur in Nuancen vom Kadett unterscheidet. Diesmal nahmen wir die Bahn und kamen schon in aller Frühe pünktlich in Frankfurt los – und tatsächlich auch pünktlich in Hamburg an. Zwei Geschäftsmänner schafften es, von morgens um sechs die teils verschneiten Landschaft bis Hamburg durchzuquatschen. Ein Lob dem Erfinder des Noise-Cancelling! Für die Weiterfahrt nahmen wir den Regionalzug nach Lübeck und wurden pünktlich am Lübecker Hauptbahnhof ausgespuckt. Unser Hotel lag nur wenige Minuten Fußweg vom Bahnhof entfernt – und wie sich später herausstellte, konnten wir von unserem Zimmer auf die Gleise schauen. Doch die Dreifachverglasung hielt den überschaubaren Lärm außen vor.

Vom Holstentor zur Marienkirche

Der erste Weg – wie könnte es anders sein – führte, nachdem wir das Gepäck abgegeben hatten, direkt zum Holstentor. Ich bin ja immer schwer beeindruckt von solch historischen Bauwerken – und mache mir bewusst, dass es vielleicht das letzte Mal im Leben ist, dass ich dieses Objekt sehe. Was eben noch selbstverständlich erscheint, wird viel zu schnell zum „… weißt du noch?“.

Fast immer, wenn ich in einer fremden Stadt bin, führt mich einer der ersten Wege zur Touristeninformation. Meist bekommt man dort einen Stadtplan und andere nützliche Informationen. So auch hier in Lübeck – da wir in den kommenden Tagen eine Schifffahrt über die Trave zur Ostsee unternehmen wollten, bekam Pia einen Gutschein für einen Prosecco in die Hand gedrückt. Der Tag begann gut – und so blieb es auch.

In der Breiten Straße, die als Fußgängerzone durch die Innenstadt führt, wurde an allen Ecken und Enden gewerkelt und die Buden für den Weihnachtsmarkt aufgebaut – auch vor dem historischen Rathaus und auf dem Markt. Gegenüber verkauft Niederegger Marzipan in allen Varianten, und nebenan lockt die mächtige Marienkirche.

Nobelpreise

Die Innenstadt von Lübeck wird westlich von der Trave umflossen (an der Untertrave habe einige ältere Schiffe festgemacht) und östlich von einem Kanal, der hinter dem Hansemuseum in die Trave mündet. Noch weiter östlich kommt man an die Wakenitz – das weiß ich aber nur aus Erzählungen. Somit befindet sich das Herz Lübecks quasi auf einer Insel – die es in sich hat. Hier trieben sich die jungen Heinrich und Thomas Mann herum sowie Herbert Frahm, der nach seiner Flucht 1933 nach Norwegen unter dem Namen Willy Brandt nicht nur als Regierender Bürgermeister von Berlin 1959 die Eintracht im Olympiastadion Deutscher Meister werden sah, sondern als erster sozialdemokratischer Außenminister und späterer Bundeskanzler Deutschland würdig vertrat. Auch wenn wir über die Notstandsgesetze oder sein Verhältnis zu Frauen durchaus reden könnten – er war ein Mensch – und keiner dieser Charaktermasken, die üblicherweise die politischen Geschicke lenken. Im Willy-Brandt-Haus lässt sich seine Geschichte nachvollziehen – ohne allzu sehr auf die dunklen Seiten einzugehen. Der Besuch ist gratis und sehr informativ. Nicht weit davon entfernt liegt das Günter-Grass-Haus, dessen Besuch wir auf den nächsten Ausflug nach Lübeck verschoben. Grass wurde zwar in Danzig geboren, starb aber 2015 in Lübeck und hatte seit 1987 in der Nähe gelebt.

Das Buddenbrookhaus hingegen wird noch bis 2030 renoviert. Im Gegensatz zu Heinrich ist Thomas Mann in Lübeck recht präsent. Das liegt natürlich an seinem Roman „Buddenbrooks – Verfall einer Familie“, der in Lübeck spielt – und der nach seiner Veröffentlichung nicht nur Beifall erntete. Einige Lübecker Großkopferte fühlten sich entlarvt. Mann publizierte die Buddenbrooks 1901 im Alter von 25 Jahren und erhielt 1929 den Nobelpreis für dieses Werk – und nicht für den Zauberberg. Während der ältere Bruder Heinrich sich schon früh gegen den Ersten Weltkrieg und später gegen die Nazis positionierte, erfolgte die Wandlung des jüngeren Thomas – vom kriegsbegeisterten, deutschnationalen „Unpolitischen“ zum entschiedenen Gegner der Nazis, der Deutschland verließ – erst später. Auch das nahmen ihm die Lübecker übel, zumal er die Bombardierung Lübecks im Zweiten Weltkrieg aus dem Exil heraus durchaus verstand. Kurz vor seinem Tod wurde er Ehrenbürger Lübecks. Brandt, Grass, Mann – alle drei erhielten den Nobelpreis.

Hansestadt

Hansestadt Lübeck – man spürt die große Geschichte an allen Ecken und Enden. Nicht nur die vielen historischen Gebäude sprechen für sich, auch im Hansemuseum kann man die Geschichte der Hanse nachvollziehen. Wobei es gar nicht so einfach ist, hier durchzublicken. Viele Texte, die man über eine digitale Karte auf dem Handy abrufen kann, geben zwar ein ziemlich genaues Bild, verwirren jedoch zuweilen ob der Fülle. Da schaue ich mir lieber die ausgestellte Kogge oder das nachgebaute Kontor von Brügge an. Ziemlich langweilig finde ich manche Zwischenräume, in denen in Standvitrinen Dinge ausgestellt sind – Münzen oder zerbrochene Schwerter. Vielleicht habe ich mich aber auch nur zu lange in den Anfangsräumen mit der Vorgeschichte beschäftigt, sodass mir hinten raus die Puste ausging. Bis ich merkte, wie viel Input das ist, war schon die erste Stunde herum.

Wir trieben durch die Gassen, spähten auch durch die kleinen Gänge in die Hinterhöfe, futterten bei Ulla Currywurst und Schaschlik, wanderten über eisige Wege zum Dom, der von den Briten im Krieg bis auf die Grundmauern zerstört wurde, und tuckerten am Samstag mit einem Schiff der MS Hanse über die Trave an die Ostsee nach Travemünde. Dort löste Pia ihren Gutschein ein und orderte zudem noch einen Zitronen-Ingwer-Tee – der sich als heiße Bowle mit Melone, Orange und einer vollständigen Chili zum Preis eines Kleinwagens herausstellte. Aber die Fahrt war klasse. Nur wenige Menschen taten es uns gleich; wir saßen eine Zeit lang unter Deck, trieben gemächlich an Industrie- und Naturgebieten vorbei, und der Kapitän erzählte tausende Geschichten von den Landschaften und Gebäuden, an denen wir vorbeischifften. Das war ziemlich großartig.

Diebstahl in Travemünde

In Travemünde selbst befindet sich der älteste Leuchtturm Deutschlands, dem 1974 ein fürchterlich hässliches Hotel vor die Nase geklatscht wurde und seither dessen Funktion übernimmt. Das Hotel steht sogar unter Denkmalschutz. Nebenan sorgt ein Hotelneubau dafür, dass die Abendsonne nicht den winterlichen Strand bescheint, der im Schatten liegt, sondern die Fenster des Hotels. Immerhin fand ich in einem Shop einen Turnbeutel mit maritimem Motiv – sogar im Angebot. Ich hatte meinen in Frankfurt vergessen und Pia am Vortag in Lübeck erfolglos alle Shops abgeklappert. Den ganzen Tag freute ich mich auf ein Fischbrötchen aus dem Fischereihafen – und als ich es tatsächlich in den Händen hielt, schoss eine verfickte Möwe vorbei und zog mir den Fisch quasi aus dem Mund, der mir dann vor Schreck auf den Boden plumpste. Beleidigt hockten wir in der Bahn und verließen den Ort des Raubes. Für den Erwerb eines Souvenirs landeten wir fünf Minuten zu spät in Lübeck City. Immerhin: Im Korfu, einer griechischen Taverne, vergaß ich dann bei einem Grillteller kurzzeitig den Unbill und schaufelte Gyros und Zaziki in mich hinein. Ein angedachtes Ska-Konzert fiel hingegen flach: Die erste von drei Bands war für 21:30 Uhr angekündigt – da plante ich, allmählich zu ruhen. Pia ging es genauso.

Hatten am Donnerstagabend die Eintracht-Frauen den Einzug ins Viertelfinale durch einen überzeugenden Sieg gegen Eindhoven klargemacht, zeigten sich die Männer am Samstag wankelmütig und retteten mit Ach und Krach nach einer deutlichen 4:1-Führung ein 4:3 in Köln über die Zeit. Während das Bundesliga-Spiel auf Sky übertragen wurde, lief das europäische Frauenspiel nur auf Eintracht-TV. Die einen sagen: Immerhin. Die anderen: Armut. Sucht es euch aus.

Vom Schüler Café an die Elbe

Schon brach der letzte Morgen an. Wir frühstückten – wie die letzten Tage auch – in der Bäckerei Schüler (nach längerem Zögern bestellte ich mir am ersten Tag ein süßes Schüler-Frühstück, bis ich begriff, dass der Laden so hieß), checkten dann aus und spazierten am Mühlen- sowie Krähenteich entlang, warfen einen Blick in die wunderbare Ägidienkirche und schlenderten noch einmal durch die pittoreske Hüxstraße. Ja, Lübeck ist nett, und unsere vier Tage waren wahrlich nicht zu kurz angesetzt, um allein die Innenstadt in Augenschein zu nehmen – und um sich in Travemünde die Butter vom Brot nehmen zu lassen.

Etwas früher als geplant nahmen wir die Bahn nach Hamburg – was sich als goldrichtig erwies. Zum einen spazierten wir gemütlich an der Elbe entlang, um uns an den Landungsbrücken ein Fischbrötchen in einem geschlossenen Raum zu gönnen, zum anderen hätten wir wahrscheinlich mit dem ursprünglich angedachten Zug unseren Anschluss nach Frankfurt verpasst. So besorgte sich Pia noch einen Leuchtfeuerteddy, um die Aktion der vier zentralen Projekte von Hamburg Leuchtfeuer – das Hospiz, das Lotsenhaus, das Wohnprojekt Festland sowie unser Projekt Aufwind, das in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen feiert und Menschen mit HIV und Aids im Alltag begleitet – zu unterstützen. Der Zug war pünktlich, die Fahrt nahezu geräuschlos – sieht man einmal vom quasselnden Jungmann ab, der im Ruheabteil seine Freundin zutextete. Wieder einmal dankte ich dem Erfinder des Noise-Cancelling. In Frankfurt sprangen wir in die einrollende U5, an der Konsti in die 12 – und schon ratterten wir in der Frankfurter Kälte Richtung Heimat. In der Wohnung herrschten urwüchsige 15 °C – wohl dem, der eine Heizung hat. Lübeck, wir kommen wieder. So Gott will.

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