Was bin ich früher viel Rad gefahren. Egal ob Spessart, Odenwald, Glastonbury, Prag, Paris oder Frankfurt. Fahrradfahren war Entschleunigung, das langsame Hineindrehen in eine andere Welt. Draußen war woanders, die Wege suchten wir uns selbst. Digitale Navigatiossysteme gab es nicht, manchmal hatten wir Karten dabei, manchmal auch nicht. Zurück gefunden aber haben wir immer.

Seit wir unseren Garten haben, wurde das ziellose Radfahren seltener. Und es ist eben das Ziellose, das ich so liebe. Dieses Irgendwohin. Irgend etwas entdeckst du immer. Mit einem Ziel vor Augen verlierst du den Blick für’s Unterwegssein. Das Überraschende. Manchmal halt auch das überraschende Ende eines Weges. Seit Beginn der 90er war ich mit dem Mountainbike unterwegs, natürlich mit verschiedenen. Fünf Räder wurden mir geklaut. Eines aus dem Auto in Prag. Eins im Wald am Edersee. Einen Hügel hinaufgetragen, zwischen Bäumen versteckt, mit zwei anderen abgeschlossen. Mit dem Mountainbike muss man ja nicht downhill fahren, blind durch die Gegend ochsen. Aber man muss sich keine Sorgen wegen Schotter oder Ästen machen, wegen Bürgersteigkanten.

Fahrradfahren war früher immer mit einem Hauch Anarchie verbunden. Niemand hat auf dich geachtet, du musstest aufpassen, vor allem in Städten. Aber du konntest auch alle Wege nehmen, die sich anboten. Querfeldein in der Stadt. Heute ist alles geregelt, Fahrradsalafisten brachten den Geist der Autofahrer auf die Wege, fordern ihre Rechte ein – und benehmen sich auch so. Und dann kamen die Elektroräder auf, dadurch stieg an manchen leisen Wegen die Geschwindigkeit. Jetzt sind sie auch dort, wo man sich früher hinauf oder hinein kämpfen musste, der Blick als Belohnung. Alles ist im Wandel, alles ändert sich. Nicht immer zum Besten.

Heute schmerzt auf längeren Wegen mit dem Mountainbike mein Rücken, von daher habe ich mir im vergangenen Jahr ein stinknormales Fahrrad besorgt, auf dem ich halbwegs gerade sitze. Hoher Rahmen – das schränkt natürlich die Bewegungsfreiheit ein, absteigen dort, wo ich früher mit Technik den Hinterreifen hochgezogen habe. Vergangene Woche folgten die ersten größeren Ausritte.

Zunächst trieb es mich in den Stadtwald, meine alte Heimat, als ich noch in Oberrad gewohnt habe und stets wenn ich Zeit hatte, durch den Wald geradelt bin. Über mir dröhnen die Flieger, doch der Geruch frisch gesägter Bäume oder regennasser Waldpfade entschädigt. Maunzenweiher, die Lichtung an der Kesselbruchschneiße, Königsbrünnchen, Scheerwald – ruckzuck bist du in einer anderen Welt. Mit der Zeit kannte ich mich ganz gut aus, wusste, wo die Straßen zu überqueren sind. Jetzt, nach sieben Jahren im Nordend, merke ich, dass ich einiges vergessen habe, es ist ja schon ein ordentliches Wegegewimmel im Stadtwald. Aber ich fühle mich, wie in den Zeiten, als ich nur wenige Meter fahren musste, um im Wald zu landen. Flashback. Und während auf einigen Hauptwegen wie hin zum Jacobiweiher mächtig was los ist, ist’s auf Nebenwegen immer noch deutlich ruhiger. Und da derzeit ja auch wenig Flugzeuge unterwegs sind, könnte man manchen Fleck gar romantisch nennen. Schade nur, dass ich durch die ganze Stadt muss, um wieder nach Hause zu kommen. Begonnen am Lerchesberg, diesem Ghetto für Zuvielverdiener mit der temporären Einbahnstraße, weiter durch Sachsenhausen bis hin zum Eisernen Steg. Kurzer Schlenker durch die neue Altstadt, Abschlussbier am Gudes.

Ein Klassiker ist auch die Tour an der Nidda entlang, beginnend in Berkersheim. Unter der Woche geht’s, ein schönes Fleckchen Frankfurt. Und je nach angrenzendem Stadtteil unterschiedliche Kulturen, die es sich am Ufer gemütlich gemacht haben. Nervig nur die Kampfradler, die sich mit Schmackes ihren Weg bahnen – in ihren sündhaft teuren Maschinen und dem Outfit der Tour de France. In Rödelheim komme ich an der ehmaligen Synagoge vorbei. In der Pogromnacht 1938 in Brand gesteckt, diente sie anschließend als Lagerraum für eine Autowerkstatt. Die Juden aber, die sie zuvor besucht hatten, wurden vernichtet. Einige hatten Glück, konnten fliehen. Heute ist der Ort eine wenig beachtete Gedenkstätte.

An der Wörthspitze fließt die Nidda in den Main, Zeit für eine Zigarette. Dann am Main zurück, leider eine ganze Weile über die befahrene Stroofstraße, besser wäre es, auf der südlichen Seite des Mains zu fahren. Immerhin hat das Kiosk am Orange Beach offen, das gekaufte Bier trinke ich im Sommerhoffpark im Gutleut. Gegenüber winkt das LiLu, das Licht und Luftbad in Niederrad. Wenig später dann das Westhafenviertel, zu clean, um schön zu sein. Wer in den Häusern ganz oben lebt, hat viel Geld und einen schönen Blick.

Das Mainkai in der City ist immer noch für Autos gesperrt, das kann von mir aus so bleiben. Obgleich ich seit ich einen Führerschein besitze, stets ein Auto besessen habe (bis auf wenige Ausnahmen), eigentlich gerne Auto fahre und die Dinger zuweilen recht praktisch sind, so ist es bei näherer Betrachtung eigentlich unfassbar, wieviel Platz die Kisten einnehmen, wieviel Platz für sie bereit gestellt wird. Fetisch.

Nach knapp 40 Kilometern lande ich wieder im Nordend. Und war gar nicht mal so irrsinnig lange unterwegs

Die letzte Tour führt uns erneut in den Stadtwald, wir sind zu viert, das dürfen wir auch. Nach einem kurzen Abstecher zum Königsbrünnchen führt uns die Tour Richtung Flughafen, wahrscheinlich sind genau jetzt die Zeiten, um in dieser Gegend unterwegs zu sein. Ansonsten verderben dir die Massen an Flugzeugen den idyllischen Moment gewaltig. Jetzt fällt ein einziger Flieger auf. So erreichst du das Naturschutzgebiet am Gehspitzweiher. Sogar in Zeppelinheim ist’s ruhig. Weiter hinten in Walldorf gab es zu Kriegszeiten ein KZ-Außenlager. 1700 jüdische Frauen mussten hier für den Flughafen zwangsarbeiten. Die meisten aus Ungarn. 1700 Schicksale, die nach dem Ende der NS-Herrschaft in Vergessenheit gerieten. Bis Schüler auf Spuren des Außenlagers stießen, sich auf Spurensuche machten. Heute erinnert ein Lehrpfad an die Tage des Grauens, an der Stelle der einstigen Barracken wurde über die Mauerreste des Kellers, in dem die Frauen misshandelt wurden, ein Gebäude errichtet. Ein Schild kündet davon, dass die Glasfassade auf der einige Opfer und deren Geschichte abgebildet sind, mit Steinen beworfen wurde.

Zufällig landen wir an einem Gasthof. Der Gundhof. Niemand von uns kannte ihn, aber es ist an der Zeit für eine Rast. Das erste Mal seit unserem letzten Abendessen in Bangkok Ende März sitze ich wieder in einem Biergarten. Mit Maske. Zufälliger Weise kommen Flo und Tim vorbei, wie wir mit Rädern unterwegs. Sachen gibt’s.

Später landen wir an der Startbahn West, eingezäunt wie einst die Zonengrenze. An einigen Punkten zuvor trafen wir Menschen mit riesigen Objektiven. Auf den Autobahnen rauscht der Verkehr, unwirtliche Orte. An einer Spottingstelle verkündetet ein Schild des Flughafenbetreibers an die unfassbare Ökologie, die durch den Bau der Start- und Landebahnen geschaffen wurde – und ich bin froh, den Flughafen hinter mir zu lassen, in Kelsterbach am Main entlang zu radeln. An den Schwanheimer Dünen vorbei geht’s nach Alt-Schwanheim und nach dem Spaghettieis weiter am Main zurück in die Stadt. Am Ende stehen 60 Kilometer zu Buche, und ich kann euch sagen, ich bin groggy. Aber erlebt haben wir eine Menge. Und das ist auch gut so. Störend nur die große Anzahl von Einwegmasken auf den Wegen.