Ein Sammelsurium aus dem angebrochenen Leben

2025 – Ein Rückblick – Teil IV

Und es war dringend. Mittags hatte ich meinen Vater noch besucht, und schon dort hatte mich ein Pfleger vorgewarnt, dass er schlecht drauf sei, nichts gegessen hätte und schlafe. Als ich sein Zimmer betrat, war sein Schlaf nicht entspannt, irgendetwas stimmte nicht. Als meine Mutter später kam, schlief er immer noch. Später kam er mit einer Lungenentzündung und einer undefinierten Problematik ins Krankenhaus. Das war der Moment, als mich meine Schwester anrief – wir mussten Entscheidungen treffen.

Zumal meine Mutter ins gleiche Krankenhaus eingeliefert wurde – der Blutdruck spielte verrückt. Im Nachhinein erwies sich der Aufenthalt im Zimmer gegenüber als ganz praktisch, so war sie in der Nähe meines Vaters und wurde versorgt. Freitagmorgen rief meine Schwester wieder an, die Zeichen standen auf Abschied. Ich ließ alles stehen und liegen und sauste mit dem Roller nach Seligenstadt. Mein Vater lag im Bett, ich schlotterte vor Kälte. Scheinbar hatte er sich ein bisschen gefangen. Im vergangenen Jahr hatte er sich immer wieder berappelt. Am folgenden Tag fuhr ich gemeinsam mit Pia hin, meine Familie war schon vor Ort – und mein Vater blickte durch alles hindurch. Aber er drückte unsere Hände und wollte nicht loslassen. Es war das letzte Mal, dass ich ihn lebend gesehen habe. Als ich montags ins Krankenhaus kam, hatte er 15 Minuten zuvor den Planeten Erde verlassen. Er lag friedlich in seinem Bett, langsam wich das Blut aus seinem Körper, und unsere kleine Familie saß um ihn herum und nahm Abschied. Endlich hatte die liebe Seele ihre Ruhe. Es war der 1.12.2025. Das erste Türchen im Kalender brachte den Tod.

Doch dieser kam leichter als erwartet, sicher auch, weil das vergangene Jahr für meinen Vater und damit auch für uns eine einzige Quälerei war. Und ich bin mir sicher, hätte er von oben zugeschaut, er hätte uns zugerufen: „Komm, machen wir Feierabend“. Ich hatte mir bei meiner Rollerfahrt ein paar Tage zuvor den Bips geholt und lag fürs Erste krank im Bett und schaute Serien.

Oftmals stand ich an Gräbern von anderen Menschen, sah das letzte Foto, die Trauer in den Gesichtern, die Betroffenheit der Angehörigen und Freunde. Ich hatte bislang Glück, das allerengste Umfeld kam glimpflich davon. Das hatte sich nun geändert. Im Grunde hatte ich über ein Jahr Zeit, um Abschied zu nehmen, und wenn man es genau nimmt, waren es sogar sieben Jahre. 2018 überstand mein Vater eine schwere Herz-OP – es stand damals völlig überraschend  Spitz auf Knopf. Doch er sprang Gevatter Tod noch einmal von der Schippe – und wir befanden uns gewissermaßen in der Nachspielzeit.

Mein Vater gab gemeinsam mit meiner Mutter viele Dinge vor der Zeit auf und wartete nicht, bis es gar nicht mehr ging: die Jagd, den Garten, die Dauerkarte bei der Eintracht. Zwar halfen ihm Tom, Christian oder Petra von unserem EFC Schwarze Bembel, die steilen Treppenstufen zu erklimmen, aber auch der Weg durch den Wald oder zur S-Bahn wurde beschwerlich. Das letzte Mal sah er die Eintracht beim Spiel gegen Sporting Lissabon, es war das allererste Champions-League-Spiel überhaupt. Mein Neffe Timm nahm ihn mit, und sie saßen damals ziemlich weit unten. Natürlich schauten sie auch bei uns an der Waldtribüne vorbei.

Jetzt ging die Nachspielzeit zu Ende, und Erinnerungen bahnen sich ihren Weg – immer wieder schießen mir die Tränen in die Augen, und ich bin für kurze Momente so traurig, wie ich es noch nie war. Und so ganz fasse ich es nicht, dass mein Papa nicht mehr da ist, auch wenn er zuletzt im Rollstuhl saß und kaum mehr kommunizierte. Bis auf die letzten Tage wusste er, wer ich war, und unser Begrüßungsritual klappte noch.

Während ich krank im Bett lag, bereitete meine Schwester die Beisetzung vor. Meine Eltern hatten sich für ein Urnengrab im FriedWald entschieden – und wir ließen die Kirche außen vor. Mit einer zu uns passenden Trauerrednerin besprachen wir das Leben meines Vaters, es wurde ein langer Vormittag mit vielen Erinnerungen – bis ins Jahr 1961, als sich meine Eltern im Frankfurter Römer beim Faschingsball kennenlernten. Einen Tag später saßen sie zusammen im Café Wibra, Heiligabend 1963 dann die Hochzeit. Wohnungen wurden seinerzeit nur an verheiratete Paare vergeben. Den fertigen Text jedoch sollten wir nicht vorab bekommen. Ich war gespannt.

Das Zeitenrad rollt unerbittlich, ich wurde wieder gesund, hatte zuvor jedoch schweren Herzens meine Buchvorstellung absagen müssen. Und dann war er tatsächlich gekommen, der Tag der Beisetzung meines Vaters. Pia, Tim und ich rollten mit unserem alten Dacia nach Dietzenbach zu meiner Mutter, Alex, Ralf und Luna waren schon da, und Timm wollte später direkt zum FriedWald kommen. Ich war seltsam gelöst, die Sonne schien, es war ein schöner Tag. So eigenartig es klingt.

Als wir im Wald ankamen, waren die ersten Trauergäste schon da, und es kamen viele – auch wenn einige Freunde meiner Eltern schon lange unter der Erde weilten und andere angeschlagen waren. Viele von ihnen kannte ich auch über Jahrzehnte, mit Günter hatte mein Vater schon in den Trümmern des Nachkriegs-Frankfurt gespielt. Allein in diese Gesichter zu schauen, ließ unzählige Erinnerungsfilme aus allen Zeiten ablaufen, sogar meine alten Dietzenbacher Freunde ließen es sich nicht nehmen, heute vorbeizukommen. Timm und Luna trugen die Urne bis zum Andachtsplatz, wir versammelten uns um die geschmückte Stelle, an der Vaters Jägerhut, sein Eintracht-Outfit (Schal, Trikot, Mütze) lag, in zwei Apfelweingläsern flackerten Teelichter, und ein von Luna gefertigtes Eintrachttrikot aus Bügelperlen mit der Nummer 85 war auch dabei. Fehlte eigentlich nur noch ein Kringel Fleischwurst.

Die Trauerrednerin, Carola Kuhnz, ließ anschließend Vaters Leben Revue passieren – und sie brachte uns auch zum Lachen; erinnerte an den jährlichen Christbaum, den mein Vater schmückte, um umgehend von meiner Mutter korrigiert zu werden, erinnerte an die Fahrradtouren und seine Verlässlichkeit, an die Eintracht und die vielen Besuche auf dem Sportplatz, um seine Enkel kicken zu sehen. Es war eine wunderbare Rede, frei von Pathos und Salbaderei – sie traf das Wesen meines Vaters auf den Punkt. Er, der für alles immer eine Lösung wusste. Und wenn er sagte: „Axel, horsche mal …“, wusste ich, jetzt wird es ernst.

Anschließend marschierten wir durch den Wald zu seinem Baum, Baumnummer 1277. Timm und Luna trugen die Urne und wollten sie gar nicht mehr loslassen, es war herzzerreißend. Meine Schwester und ich ließen sie letztlich in die Erde. Es war das Letzte, was wir für ihn tun konnten. So nahmen wir endgültig Abschied von meinem Vater, wobei – was heißt schon endgültig? Er wird von oben zuschauen – und wenn ich wieder einmal mit mir und der Welt hadere, wird er mir zuzwinkern: „Du hast Recht, und ich hab mei Ruh.“ Tschüss, Papa.

Wir trafen uns anschließend in der SG bei Kaffee und Kuchen und belegten Brötchen, ließen die alten Zeiten hochleben, und ich freute mich, so viele Wegbegleiter*innen zu sehen. Die Nachbarn versprachen, auf meine Mutter aufzupassen – und dann löste sich die Trauergemeinde auf. Die Sonne schien, es war ein schöner Tag. So eigenartig es klingt.

Einen Tag später ging es nach Hamburg. Das Leben geht weiter, nächsten Mittwoch werden wir erstmals Weihnachten ohne dich feiern, und an Silvester und Neujahr werden wir nicht mehr telefonieren. So ist das Leben, alles vergeht, und auf einmal ist sogar die Ewigkeit vorbei. Schneller als gedacht. Aber noch sind wir hier. Macht das Beste draus. 


2025 – Ein Rückblick – Teil I

2025 – Ein Rückblick – Teil II

2025 – Ein Rückblick – Teil III

2 Kommentare

  1. Bernd Lehmann

    Mein herzliches Beileid.
    Bernd L.

    • Beve

      Ich danke dir.

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