Es ist ruhig geworden hier im Blog. Das liegt unter anderem daran, dass mir das Tippen seit geraumer Zeit nicht mehr ganz so leicht fällt wie früher, wir werden ja alle nicht jünger. Aber nichtsdestotrotz sind wir noch da – und von daher werfen wir mal einen Blick zurück auf das vergangene Wochenende, auf das Spiel der Frankfurter Eintracht bei Union Berlin. Die Fanabteilung plant eine Veranstaltung dazu in Kreuzberg. Noch wissen wir nicht, wer unser Gast sein wird, Benny Köhler hat kurzfristig abgesagt.

Berlin. Wie oft war ich in den vergangenen Jahrzehnten in Berlin, ich kann es kaum zählen. Besuchte Freunde, Fußballspiele, die Love Parade und trieb mit großen Augen und offenem Herzen durch die Tage wie die Nächte. Rollte mit dem Rad vom Olympiastadion nach Pankow, von Mariendorf in den Wedding. Erstmals landete ich in West Berlin 1981, die Mauer stand noch, wir tanzten im Sound und verbrachten einen ganzen Tag in der DDR inklusive Zwangsumtausch. Später die Linie 1 im Grips Theater. Es waren wilde Zeiten und nur eines blieb beständig: Die Wandlung. Die Wandlung Berlins und die des Ichs. Ich weiß nicht, wem sie besser bekommen ist.

Wir rauschen mit dem ICE durch die Republik des Jahres 2023, ich blicke aus dem Fenster, Miniaturaufnahmen gefrorener Momente reihen sich aneinander, die Schafherde auf Wanderschaft, die Wartenden an der Schranke, die Schrebergärten an den Gleisen, der Mann mit der Leiter auf dem Weg nach Irgendwo, der nichts davon weiß, dass ich ihn beobachte. Die neuen Kopfhörer dämpfen die Außengeräusche gewaltig. Noise Cancelling – eine gute Erfindung, passend zur Zeit des generellen Desinteresses an der Außenwelt, die bei genauerer Betrachtung vor die Hunde geht, wobei das wahrscheinlich zu jeder Zeit gesagt wurde. Wenn ich einen Moment als ewigen Seinszustand festhalten könnte, das wäre es der Fensterblick aus der fahrenden Bahn. Auf der Hinfahrt.

Hinter Thüringen wird es flach, nächster und erster Halt ist in Erfurt. Die Plätze gegenüber von uns bleiben leer, daran ändert auch der kurze Aufenthalt in Halle nichts. Henning und Zoe können derweil den gebürtigen Berliner und einstigen Eintracht-Spieler Marko Rehmer für den Abend verpflichten, entspannt steigen wir am Südkreuz aus und rauchen eine Cigarette. Vielmehr rauchen Henning und Pia – ich rauche ja nicht mehr, zumindest Stand jetzt! Und glaubt mir, es ist kein Spaß. Da hilft auch der strahlende Frühlingssonnenschein nicht wirklich darüber hinweg. Krokusse hingegen schießen wie kurze Hosen und Sonnenbrillen aus dem Boden, dickes B. oben an der Spree … Wir nehmen uns zu viert eine Art Taxi und sausen über Schöneberg und Kreuzberg zum Moritzplatz. Blaulicht, Polizei. Just dort ist unser Hotel, um die Ecke Ritter Butzke, der heutige Veranstaltungsort. Wir checken ein, während es sich in der freundlichen Lobby die Reisegruppe Gabi und Gudrun bei Prosecco gut gehen lässt. Wenig später findet um die Ecke eine Kundgebung statt, von daher der polizeiliche Aufriss – wir aber haben noch ein bisschen Zeit, bis die Veranstaltung abends beginntund so ziehen Pia und ich zu Fuß die Prinzenstraße runter, am Schwimmbad vorbei bis hin zum Kanal – an dem wir schon vor über 15 Jahren in der Sonne hockten und Bier tranken. Wir wandern durch Kreuzberg, schlendern über die gentrifizierte Bergmannstraße, in der die Massen mit Sonnenbrille und leichtem Schuhwerk auf den Bänken der Gastronomie den heutigen Frühling feiern, alle hier sind zwischen 19 und 27 und sprechen englisch. Viele sehen aus, als hätte sie das Jahr 1983 ausgespuckt. Weniger Punk, eher Spandau Ballet. Aber okay, sie müssen ihren Schnorres in zwanzig Jahren erklären, ich nicht.

Bei Curry 36 gibt es nach guter alter Tradition Fleischspieß und Pommes zu Westpreisen, nebenan warten 100 Menschen in der Schlange auf ihren Döner bei Mustafa. Ich muss es nicht begreifen, es ist ja auch ihre Zeit – genauso wie die der Berliner:innen, die vor dem Eiscafé Vanille & Marille der Dinge, sprich Eisbollen, harren. Hier ist Kreuzberg wie gemalt, die Menschen sind alle 35, hörten neulich noch gerne AnnenMayKantereit, jetzt aber nicht mehr ganz so gerne, die Kinder heißen immer noch Lotta und die Eissorten Caramel Beurre Salé oder Blueberry Wirsing. Wir treffen uns mit Lorena und ihrem Sohn am Mehringdamm und landen im Kirmes Café Schokolottchen, für uns gibts Café und Tee, für den Nachwuchs eine gefüllte Waffel mit Eis und Smarties über die er kaum drüber gucken kann. Ich bin ein bisschen neidisch. Drinnen feiern Kinder ihren Geburtstag und es wartet sogar ein kleines Karussell im Café auf Fahrgäste, die Fahrt für einen Euro. Das ist fair. Später entdecken wir im spärlichen Grün des Kreisels am Moritzplatz junge Menschen, die inmitten des brüllenden Verkehrs in der Hundescheiße chillen, auch das ist Berlin. Wir machen uns im Hotel frisch und schieben uns vor in die Ritterstraße. Schon 2019 hatten wir hier mit der Fanabteilung einen netten Abend, ich quatschte auf der Bühne mit Axel Kruse, dann folgte ein Quiz und anschließend gab es Bier. Für weitere Veranstaltungen vor Ort machte uns Covid einen Strich durch die Rechnung. Jetzt also das Revival.

Zoe und Henning hatten schon alles vorbereitet, pünktlich trudeln die Gäste ein, darunter meine langjährigen Freunde Susi und Thomas, die ebenso wie Freund Andi schon ewig in der Hauptstadt leben. Auch Marko Rehmer trifft pünktlich ein und somit steht einem gelungenem Abend nichts mehr im Wege. Neben Marko und mir nimmt Dario Minden vom Vorstand der Fanabteilung auf der Bühne Platz, und nachdem alle Gäste mit Bratwurst, Grüner Soße sowie Getränken versorgt sind, geht es los. Unsere Themen liegen auf der Hand: Von Markos jungen Fußballerjahren, damals noch im Ostteil der Stadt beginnend, über die Nationalmannschaft und seine Zeit bei der Eintracht, die Uefa-Cup-Spiele gegen Bröndby oder Istanbul 2006, landen wir beim brandaktuallen Fanausschluss gegen Neapel. Das abschließende Quiz sieht erstaunlicher Weise den gleichen Sieger wie 2019. Glückwunsch Claas. Andi wird zweiter, Respekt.

Matchday – und es gießt wie aus Eimern. Wir frühstücken in aller Gemütsruhe in der Lobby, trinken Tee und futtern Croissants, später besuchen uns Susi und Thomas und wir quatschen über alte Zeiten. So fließt die Zeit dahin und alsbald verabschieden wir uns einstweilen von den Berlinern und brechen mit Zoe und Henning auf, um mit der Bahn Richtung Köpenick zu reisen. In Neukölln steigen Andi und Thorsten zu, wir sind gut in der Zeit, alles fließt. Bis zur S-Bahnstation Spindlersfeld, die Endstation, allemal. Reichlich Polizei erwartet uns, hält aber die Füße still. Leichten Schrittes geht es weiter Richtung Dahme, vorbei am Mannschaftshotel der Eintracht und am Wasserwirrwar entlang Richtung Alte Försterei. Ein Ausflugsdampfer in den Farben von Union Berlin speit die Töne des Nina Hagen Vereinsliedes in den Köpenicker Nachmittagshimmel. Einleitend die Worte:

Es war in den goldenen Zwanzigern, so erzählt die Legende, als in Zeiten eines ungleichen Kampfes ein Schlachtruf ertönte, ein Schlachtruf wie Donnerhall, der all jenen, so erzählt die Legende weiter, die ihn in diesem Augenblick zum ersten Mal hörten, das Blut in den Adern zum Sieden brachte.Niemand konnte damals ahnen, dass er Zeuge eines historischen Moments geworden ist. Noch heute, Jahrzehnte danach, in scheinbar aussichtslosen Kämpfen, erschallt er laut von den Rängen, so wie damals, als der Durchhaltewillen der Schlosserjungs aus Oberschöneweide ins Unermessliche stieg. Eine Legende nahm ihren Lauf,ein Mythos begann zu leben und er wird niemals niemals vergessen: Eisern Union!

Der Dampfer biegt um die Ecke, die Töne verklingen, wir spazieren dem Stadion entgegen, sind guter Dinge und gut in der Zeit. Der Einlass erfolgt unspektakulär, die Bratwurst ist prima und peu a peu trudeln die Eintrachtfans ein. Wir wandern von unten nach oben, und stellen uns brav in die Reihe. Frank ist auch schon da, seine Mitreisende Heike kommt später. Fahnen werden uns später die Sicht verstellen, soviel ist sicher. Egal, wo du stehst. Bemerkenswert ist hier bei Union die Stadionmusik und der unaufgeregte Empfang, erinnert mich immer so ein bisschen an meine Zeit als Stadionsprecher bei den Amateuren, später U23. Die Playlist gibts sogar über Twitter auf Spotify. Diesmal erfreuen uns unter anderem Rihanna, Placebo, Mando Diao und The Verve – wobei Bittersweet Symphony schon ein toller Song ist, bei mir aber sofort eine Leverkusen-Allergie auslöst. Bei der Mannschaftsvorstellung der Eisernen rufen die Fans bei jedem Spieler „Fußballgott“ und sogar Christian Lenz, der seit zwei Jahren bei der Eintracht kickt und damals mit Union aufgestiegen ist, wird von heimischer Seite ausgiebig gewürdigt. Dann singt Nina Hagen „Eisern Union“ – allerdings nicht live. Es ist stets aufs Neue ein unterhaltsames Fußballerlebnis, hier in der Alten Försterei aufzuschlagen, auch wenn kurz nach Anpfiff alle Fahnen ausgepackt werden und somit die Sicht aufs sportliche Geschehen von überschaubarer Überschaubarkeit ist. Die Eintracht scheint in Hälfte eins zwei schöne Chancen zu versemmeln, und da auch Union nicht trifft, geht es mit dem 0:0 zum Halbzeittee. Ich würde gerne mal wissen, wann die Eintracht letztmals wirklich Tee zur Pause genommen hat. Dazu müsste man wohl mal Egon Loy fragen.

Da mir der Rücken schmerzt und wir sowieso kaum was gesehen haben, wandern wir auf den Vorplatz, ich hock mich auf eine Kiste mit Streusalz und verbringe dort bis auf zwei kleinere Rundgänge, bei denen ich Andi und Stefan treffe, die ich schon lange nicht mehr gesehen hatte, die zweite Halbzeit. Irgendjemand kommt immer zum quatschen vorbei, Pia holt ne Cola, Union jubelt zwei Mal – und gewinnt das Spiel, zum Trost läuft Ace of Spades von Motörhead.

Tja, wo geht die Reise der Projektes Eintracht 2023 hin? Und vor allem mit wem? Wir werden es sehen, ich hätte ja nichts gegen die Conference League. Unnützer Wettbewerb mit interessanten Mannschaften. Könnte nette Reiseberichte mit sich bringen. Aber nach den gezeigten Leistungen der letzten Wochen ist selbst dieser Wettbewerb in latenter Gefahr.

Mit diesen Überlegungen wandern wir wieder durch Köpenick, besorgen uns ein Eis und erreichen bald die hoffnungslos überfüllte S-Bahn Station Spindlersfeld. Pia und Zoe klären mit der hiesigen Polizei optionale Alternativen und schon sprinten wir zum Bus mit der Startnummer 165, der uns nach 39 Berliner Haltestellen in die Nähe unseres Hotels bringt. Abends gibts noch Burger bei Kreuzburger am Kotti, wie wir Frankfurter sagen – und einen Absacker in der Lobby. Earl Grey für mich, was Schickes für die anderen. So siehts mal aus, Freunde. Die Züge aber, welche die Eintrachtfans in die Heimat bringen sollen, kommen nicht wirklich vom Fleck. Ich hau mich in die Falle.

Nach dem Frühstück wandere ich noch einmal die Oranienstraße nach unten, knicke in die Dresdner ein, vorbei am Franziskaner, in dem wir nicht nur beim Pokalfinale 2006 die Nacht zum Tage machten, Erinnerungen umschlingen die Gedanken. Erinnerungen an Sale, der hier in Berlin viel organisiert hat, den einzigen Hertha-Fan, den ich kannte – oder an peter, den so besonnenen Eintrachtfan, der hier in seinem schwarzen Mantel im Berliner Regen stand und mit uns auf die Niederlage getrunken hatte. Seine gebrannte Amy Winehouse CD hat bis heute überlebt, er leider nicht.

Ein letzter Café in der Lobby, dann brechen wir auf Richtung Hauptbahnhof, steigen an der Jannowitzbrücke noch einmal um, ein finaler Blick auf den Alex, dann rauschen wir am Bahnhof ein und mit dem ICE wieder raus. Unterwegs gelingt es mir kaum, die Orte der vorbeiziehenden Bahnhöfe zu entziffern. Sophie Zelmani singt „Travelling“, die neuen Kopfhörer dämpfen die Außenwelt, wir bekommen Schokolade mit der Aufschrift: „Lieblingsgast“. In Frankfurt nehmen wir die U4 bis zur Konsti und steigen dort um in die 12. Conrad ist jetzt Woolworth. Sonst scheint alles gleich.