So ganz klammheimlich habe ich in den vergangenen Wochen und Monaten ja doch ein paar Auswärtsspiele der Eintracht vor Ort gesehen, war in München, stapfte durchs verschneite Leipzig, wanderte durch Berlin oder bejubelte einen Auswärtssieg in Stuttgart. Das war mal mehr, mal weniger von Erfolg gekrönt – aber immer eine Reise wert. Daheim kennt man ja alles. Von daher war es ein gutes Ding, dass Niko mit dem Frankfurter Niveau sowie den Schwarzen Geiern, dem EFC Backstage und unserer Montagsgang einen Bus nach Gelsenkirchen auf den Weg brachte.

Bis halb zehn trudelten die Mitreisenden eine nach dem anderen ein, waren guter Dinge und zuversichtlich. Pia und ich rollten mit der 125er Honda zum New Rose an der Eschersheimer, parkten neben einem Imbisswagen und begrüßten zahlreichen bekannte Gesichter aus zig Jahren Eintracht-Fahrten, die den meisten auch ins Gesicht geschrieben standen. Was haben wir für Schlachten geschlagen und dem Schmerz die Stirn geboten. 30 Jahre am Abgrund surfen, hinterlässt Spuren. Bei Bertl, bei John und Olli und wie sie alle heißen. Unsere mitreisenden Damen hingegen sahen und sehen alle blendend aus. Wie auch immer, kurz nach halb zehn steuerte Boris den weißen Bus mit ruhiger Hand Richtung Autobahn und schon ploppten die ersten Bierchen auf. Schalke, wir kommen.

John hatte ein paar CDs gebrannt (für die Jüngeren: das sind silberne Scheiben mit Musik drauf) und zu den Klängen von den Bollock Brothers oder Cure rollten wir durch Deutschland. Die Hinfahrt verlief altersgemäß unspektakulär, den Höhepunkt erreichten wir, als ich den Bügel meiner Lesebrille in der Tasche fand, das Schräubchen dazu und unter großem Gelächter in die Runde fragte, ob jemand einen Feinmechaniker-Schraubenzieher dabei habe. Das Gelächter verstummte schlagartig, als Lisa wie selbstverständlich meinte: Ja, ich! Und tatsächlich, binnen weniger Minuten war meine Brille wieder heile, um es mit den Worten des Wirtschaftsministers zu sagen.

Hie und da hielten wir für ein paar Minuten an, zwecks Raucherpause. Und ich stand daneben und schaute bedröppelt aus der Wäsche. Ich rauche nämlich seit dem 01.12.2022 nicht mehr. Und das ist ein arger Kampf, ich sag’s euch. Seitdem trinke ich auch keinen Alkohol – ein Kinderspiel im Verhältnis zum Nichtrauchen. Missmutig nagte ich an einer von Silkes fabelhaften Frikadellen und blickte verträumt den leicht dahinschwebenden Rauchwölkchen nach.

Die Sonne lachte uns zuweilen ins Gesicht, als wir an Köln, Duisburg-Wedau und Mühlheim an der Ruhr vorbei rollten und auch Oberhausen links liegen ließen. In den Vorgärten Gelsenkirchens lag liebevoll dekoriert der Müll, einzelne Menschen, früher hätte man gesagt: „Gastarbeiter“, hoben den Daumen als wir durch enge Straßen über die Emscher rollten. Die Emscher, ein unscheinbarer Fluss, der sich durch NRW windet und in den Rhein abfließt, begegnete mir erstmals 1982/83, als mir ein Buch von Michael Holzach mit dem Titel “Deutschland umsonst. Zu Fuß und ohne Geld durch ein Wohlstandsland“ in die Hände fiel. Der Autor wanderte damals mit seinem Hund Feldmann ohne Kohle von Hamburg nach München und zurück und beschrieb diese Wanderung (in der auch die Batschkapp eine Nebenrolle spielt) in seinem Buch. Vor allem die Emscher kommt, wie so manche Menschen, gar nicht gut dabei weg. Als teils dreckige Kloake gar als Totenfluss wird die Emscher geschildert. Mit 18 habe ich das Buch verschlungen – und fiel der Erschütterung anheim, als ich wenig später erfuhr, dass Michael Holzach bei dem Versuch seinen ins Wasser gerutschten Hund Feldmann zu bergen, ein knappes Jahr später in der Emscher ertrank. Feldmann hingegen wurde von der Feuerwehr gerettet.

Kurz vor dem Stadion bremste uns eine Doppelschranke aus. Der Stau war zwar von überschaubarer Länge, dennoch verloren die ersten vor uns die Nerven und wendeten. Später erspähten wir die Problematik: Durch die Doppelschranken, die zwei 50 Meter voneinander entfernte Gleise sicherten, konnten sich stets nur wenige Fahrzeuge bewegen, öffnete sich die erste Schranke, schloss sich die zweite. Es war ein Elend. Ein Frankfurter versuchte zwar, den Verkehr zu regeln, stiftete aber nur Verwirrung, da die Autos, die sich statt abzuwarten nach vorne bewegten, mit dem Heck Gefahr liefen, die Gleise zu blockieren. Es entspann sich ein lustiges Treiben vor unseren Augen, das wir nach der Warterei und freier Fahrt mit Beifall quittierten.

Gut in der Zeit, parkten wir den Bus am ausgewiesenen Gästeparkplatz und ich machte mich auf die Suche nach meinem Neffen Timm, der mit seinem Kumpel Tom schon in Gelsenkirchen gelandet war und dessen Eintrittskarte ich bei mir hatte. Rund um uns steuerten schon etliche Frankfurter die Veltins Arena an, man erkannte die Unseren an den schwarzen Shirts und Jacken und den Bierdosen in den Händen. Gude hier, Gude dort und schon klingelte mein Telefon. Timm war dran und hinter mir, der Tickettausch ging schnell von statten, so schnell, wie die Zeit vergeht. Es war doch eben erst, dass er mit mir und meinem Vater an der Louisa vorbei Richtung Stadion marschierte und die Eintracht sich gegen Cottbus blamierte. Jetzt kann uns Timm auf den Kopf spucken und mein Vater kaum noch laufen, das Zeitenrad dreht sich unerbittlich, aus Kinder werden Väter und aus Vätern Kinder.

Dir meisten von uns hatten Sitzplätze, Pia und ich marschierten mit Ariane und Niko zu den Stehplätzen, der Einlass ging flott und wir wanderten durch den Schalker Tunnel in Richtung der Stehplätze – die schon recht gut besucht schienen. Es wird voll, soviel war sicher. Die Schalker zeigten sich im Unterrang in Weiß, im Oberrang in Blau – die Turnhalle platzte aus allen Nähten und unten turnte Maskottchen Erwin herum, der übrigens genauso heißt, wie das Offenbacher Fanzine, was uns wiederum reichlich egal sein könnte – wenn das Schalker Maskottchen nicht womöglich nach Erwin Kremers benannt wäre, der bei der WM 1974 nicht dabei war, dafür aber Bernd Hölzenbein. Und warum? Weil Kremers im letzten Bundesligaspiel 1973/74 Schiedsrichter Klauser als blöde Sau beschimpfte und dies solange wiederholte, bis diesem keine andere Wahl blieb, als Rot zu ziehen. Daraufhin flog Kremers vom Platz, durfte nicht mit zur WM und Holz wurde Weltmeister. Danke Erwin.

Jetzt wurde es voll und voller, entgegen einer dubiosen Ankündigung stand Kevin Trapp wie gewohnt im Tor und kurz vor Anpfiff obsiegte die Folklore und wir wedelten mehr schlecht als recht mit den ausgelegten Fähnchen und sorgten so für eine farblich angemessene Ehrerbietung an die glorreiche Sportgemeinde Eintracht. Und während die Fahnen noch wedelten lag die Kugel im Netz. Ohrenbetäubende Musik brach über uns herein – und Schalke feierte den Torschützen zum 1:0, Simon Terrode. Keine volle Minute war gespielt. Och ne.

Die folgenden 45 Minuten waren geprägt durch wehende Fahnen, die mir traditionsgemäß den Blick aufs Spielfeld verhagelten, Kamadas Ausgleich zum 1:1 und den Bemühungen meiner Nachbarn, den Besuchern der Loge hinter uns den Blick zu verstellen, in dem sich die Jungs gegenseitig auf die Schultern hoben. Langweilig wurde es zumindest nicht.

Pünktlich zur zweiten Halbzeit wurden unsere Recken auf dem Platz mit Leuchtwerk und Rauch begrüßt, dazu verkündete ein Banner den Europapokalsieger Randale des Jahres 2023. Wer damit etwas anfangen kann, okay. Ich würde tatsächlich auch ohne diese folkloristischen Elemente klarkommen – aber es ist jetzt auch keine Kriegserklärung an die Welt. Die Eintracht ganz in Rot schien dadurch beflügelt und ging durch Tuta gar mit 2:1 in Führung. Doch als der wenig überzeugende Schiri Schlager ein klares Foul an Buta durchgehen ließ verlor die Eintracht die Lust am Stürmen, Schalke bestimmte das Spiel und kam folgerichtig zum Ausgleich. Jetzt war die Arena erwacht und peitschte die Blau Weißen nach vorne, aber mehr als eine Rudelbildung kam dabei nicht rum. Unterdessen versuchten unsere Nachbarn weiterhin die Fenster mit Choreoelementen zu zukleben, für Abwechslung war gesorgt – auch nach Abpfiff – da zunächst die Frankfurter vor den sich sammelnden Schalkern ausliefen und später es noch zu Reibereien im Block kam. Da waren wir aber schon längst draußen und wichen davonstobenden Polizeipferden aus.

Die Rückfahrt führte uns bei Klängen von Tom Russell (Float like a butterfly sting like a bee … ), Lost Fastidios oder Stereo MCs durch Essen Kray, wobei nicht jeder Ton seitens der Crew getroffen aber dennoch mit Herzblut intoniert wurde (Antifa Hooligans). Melancholisch versank die Sonne zwischen Bonn und Wiesbaden, ein Rudel Hirsche winkte uns, während wir für ein paar Kilometer dem Eintrachtbus hinterher fuhren. Die Nacht legte sich über Frankfurt als wir gegen halb elf wieder am Fußballplatz der Concordia einrollten. Ausflüge ins Ruhrgebiet haben ja trotz allem Zeitenwandel etwas Sentimentales. Die vereinzelten Fördertürme der Zechen, die Begeisterung auf Schalke – es riecht nach Taubenzucht, nach Samstagnachmittagsfußball im Radio, nach Feinripp. Aber auch nach Influencern der modernen Zeit, in der Schalke womöglich absteigt und Dortmund Meister wird. Und die Eintracht Pokalsieger. Aber das ist eine andere Geschichte.