Die Flüge und die Unterkunft waren gebucht, bevor klar war, dass die Eintracht das Supercup-Finale erreichen würde. Von daher hielten sich die Kosten in Grenzen. Vor drei Jahren war ich schon einmal in Helsinki, damals auf dem Weg nach Tallinn und ohne Pia. Jetzt sind wir wieder zusammen unterwegs. Zum Spiel der Eintracht gegen Real Madrid.

Wir fahren mit der S-Bahn am Yeboah-Haus in Niederrad vorbei und sind mal wieder viel zu früh am Flughafen. Der Shuttlezug bringt uns zu Terminal 2, dort ist die Lage überschaubar, und wir sind nicht die einzigen Eintrachtler, die nach Helsinki wollen. Hie und da ein Gude, sogar ein großes Lob kassiere ich für meine Reiseaufzeichnungen der vergangenen Jahre. Der Flug ist nahezu ausgebucht, Pia und ich sitzen nebeneinander und schweben in Richtung Finnland. Literarischer Begleiter ist die Autobiografie von Bruce Dickinson, dem Sänger von Iron Maiden, der so ganz nebenbei auch Pilot ist. Aber leider nicht auf unserem Flug, der wie die Zeit vergeht. Als wir ankommen verweist eine digitale Werbetafel auf das bevorstehende Spiel.

Nach einer kleinen Verwirrung sitzen wir in der Bahn und gleiten durch Vororte zum Bahnhof. Ich bin müde, abends zuvor gings spät ins Bett und dazu habe ich wochenlang durchgearbeitet Der Blick schweift aus dem Fenster, ich kann nicht abspeichern, welche Landschaft vorbeizieht – bis wir kurz vor dem Ziel am Vergnügungspark und am Töölönlahti vorbei zum Bahnhof sausen. In Finnland ist es ein bisschen kühler als zuhause – das ist angenehm. Wir suchen über die Citymapper App unsere Straßenbahn, die zu unserer Unterkunft fährt – und nachdem wir uns über die Fahrtrichtung klar geworden sind, rasseln wir mit der Linie drei nördlich des Viertels Kallio. Pia hat ihren kleinen Rucksack neben sich stehen. Als er leicht verrutscht, blockiert er unbemerkt die Lichtschranke der Tür. Urplötzlich steht der Fahrer neben ihr und hält ihr eine Standpauke. Auf finnisch. Die Haltestelle liegt direkt vor unserer Haustür, wie auch eine Baustelle. Es gibt viele Baustellen in Helsinki. Unsere Vermieterin Salla ist schon vor Ort; mit einem Aufzug alter Schule geht es hoch in die vierte Etage, die Kids unserer Vermietern sausen die Stufen nach oben und kommen zeitgleich an. Salla ist ebenso freundlich wie die kleine Altbauwohnung, sie drückt uns den Schlüssel in die Hand und zieht ihrer Wege.

Die Airbnb-Unterkunft hat alles, was wir brauchen, vor allem einen Kühlschrank für Dosenbier, Schöppchen in Kneipen sind irrsinnig teuer. Dennoch sitzen die Leute davor, als wir zu einem ersten Rundgang aufbrechen. Die Straßenzüge ähneln sich, langgezogene Wohnblöcke mit sechsstöckigen Häusern säumen die breiten Straßen, dazwischen schiebt sich unablässig die grün-gelbe Straßenbahn über die Gleise, die Stimmung ist entspannt. Im Supermarkt um die Ecke besorgen wir uns ein paar Lebensmittel und ziehen weiter in Richtung des Töölönlahti. Dieser See inmitten der Stadt war schon bei meinem letzten Trip nach Helsinki Mittelpunkt meiner Abende vor Ort. Wir überqueren die Gleise, auf denen wir vorhin angekommen sind. Direkt am See liegt ein kleines Café, wir setzen uns und blicken übers Wasser. Endlich Ruhe. Zumindest beinahe. Musik dringt zu uns herüber, als wir uns schlau machen, bekommen wir mit, dass Justin Bieber ein Freiluftkonzert gibt, dessen Töne wir hören.

Anschließend umrunden wir den See, Jogger und Scooter sausen an uns vorbei, vorne am Bootsverleih dümpeln zwei riesige aufblasbare Flamingos im Wasser und weiter hinten bietet sich am Rondell ein wunderbares Bild. Zu smoother Musik aus den aufgebauten Lautsprechern tanzen jede Menge Finnen jeglicher Couleur im klassischen Stil und haben sichtlich Spaß, wir setzen uns auf die Stufen und schauen zu. Ich wünschte, ich könnte ebenso selbstvergessen den Moment genießen, eins mit sich sein. Wir treiben weiter, Plakate verweisen auf den Weg ins nahegelegene Olympiastadion und am oberen Eck des Sees dreht ein kleines Wasserrad stoisch seine Runden, eine Installation spendet Strom, hier kannst du dein Handy aufladen – wenn du ein Kabel dabei hast. Einige der prächtigen hölzernen Villen am hinteren Ufer scheinen baufällig und die besten Tagen hinter sich zu haben, sie könnten Geschichten erzählen, ziehen es aber vor, zu verrotten, ich fühle mich ihnen verwandt.
Langsam legt sich der Abend über Helsinki, wir verlassen den Töölönlahti über die Eisenbahnbrücke und wandern über die Metrostation Hakaniemi – in deren Nähe wir schlechte Burger futtern – in Richtung des Yachthafens an einem weiteren See hinter den Gleisen. Auch hier wird ein Festivalgelände errichtet, es duftet nach frisch geschlagenem Holz.

Wir werfen einen Wasserblick aufs östliche Ufer, Menschenmengen tummeln sich vor dem Hilton Hotel, Polizei an allen Ecken und Enden – und wir erfahren, dass entgegen unserer Vermutung nicht Justin Bieber hier nächtigt, sondern Real Madrid. Wir lassen das Hilton rechts liegen und wandern durch Baustellen an Uferwegen entlang Richtung Heimat. Ein voller Mond bescheint die Wege, Industriegebäude spiegeln sich im Wasser der Bucht, wir sind müde und laufen heim. Unten hocken wir uns auf ein Mäuerchen und rauchen noch eine Cigarette. Oben ist die Dusche winzig, eine umgebaute Toilette, die auch noch darin Platz findet. Für uns reicht es.

Am nächsten Morgen besorgt Pia frische Zimtschnecken, wir frühstücken zuhause und lauschen dem Lärm der Baustelle, dann brechen wir auf in den Tag. Die Straßenbahn bringt uns nach Eira zum Stadtstrand nahe dem Hafen. Eine Kugel Eis kostet 4,50, das ist etwas übertrieben. Wir schlendern am Ufer entlang, vor uns liegen etliche winzige Inselchen, Boote schippern über das baltische Meer und die Sonne lacht über uns, ein schöner Tag. Am Olympiaterminal wartet eine gigantische Fähre auf die Überfahrt nach Schweden – wir wandern durch die Markthalle vor zum Hafen. Dort warten Sightseeingboote auf Touristen, die ordentlich besetzt ablegen. Am offenen Markt verweisen orangene Pavillons auf Essensstände, die weißen hingegen beherbergen Souvenirs. Weiter hinten auf der Halbinsel dreht sich ein Riesenrad gemächlich in den Tag.
Wir nehmen nicht das Riesenrad, sondern die Straßenbahn und fahren in den Norden Richtung der Insel Seurasaari und wandern über eine Brücke auf das Eiland. In einer Bucht rasten wir, leise ploppen die Wellen an die Ufersteine und verwässern die Gedanken an eine Gegenwart die so unwirtlich scheint und im Grunde jeden utopischen Entwurf verbietet. Ja, das Leben ist schön – wenn man es versteht, den Moment zu genießen, wenn keine schwarzen Gedanken dir die Zeit zermalmen.

Auf der Insel wartet ein Freilichtmuseum auf die Besucher, eine Art finnischer Hessenpark, wir durchschleifen die Wege und trinken am beschaulichen Café noch einen Cappuccino, bevor es über die Brücke wieder auf das Festland geht. Dort nehmen wir den Bus und ruckeln vorbei am Stadtstrand am westlichen Ufer zurück in die Stadt. Das UEFA-Fanfest findet von uns keine Beachtung, wir machen einen Abstecher über den Bahnhof zum Fantreff am Kaisaniemenpuisto. Ein eingezäunter staubiger Platz erwartet uns, nach einem Security-Kontrollpunkt dürfen wir eintreten. Viel ist nicht los, die Essens- und Getränkestände verlangen ortstypische horrende Preise, von der Bühne dröhnt laute Musik vom Band, später verspricht Aufsichtsratsvorsitzender Philip Holzer, dass die Eintracht mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben wird. Wir treffen Heike und Jost, die aus Tallinn gekommen sind und verquatschen die Zeit. Anschließend bringt uns die Bahn zurück in die Unterkunft und wir bereiten uns auf das abendliche Spiel vor. Das heißt, wir ziehen uns zur Feier des Tages ein Trikot an und werfen ein paar Dosen Bier in den Rucksack. Dann ziehen wir los zum Töölönsee, hocken uns auf die Steine hinter den Geleisen und warten auf Frank, Heike und Jost, mit denen wir hier verabredet sind. Auch Susi und Andrej haben das Café vor uns entdeckt. Ein kurzes Hallo, dann trennen sich die Wege vorerst wieder, auch unsere Freunde sind mittlerweile gekommen und nach ein paar Büchsen Bier brechen wir auf in Richtung Olympic Stadium, das keine zwei Kilometer entfernt liegt. Natürlich bleiben wir alle naslang stehen, um jemanden zu begrüßen. Über die Jahre habe ich unfassbar viele Menschen durch die Eintracht kennengelernt und fast alle sind mir freundschaftlich gesinnt, das ist schön, aber manchmal auch ein bisschen mühsam, da ich dann nur selten die Ruhe und die Zeit habe, mich allen adäquat zu verhalten, auch mir selbst gegenüber. Kurz verliere ich Pia aus den Augen, selbstverständlich bleibe ich wie fast immer in Europa bei Familie Minden hängen, die nahezu komplett angereist ist. Ansonsten geht der Einlass flott und unkompliziert vonstatten. Sogar mein Freund Kid ist hier, das freut mich sehr.

Ich schlängele mich durch die Menge und ignoriere die Bierstände, 10 Euro der Schoppen ist nicht meine Kragenweite. Im Stadion herrscht Rauchverbot, auch dein Bier, so vorhanden, darfst du nicht mit in den Block nehmen. Auswärtsfahren – je näher es Richtung Anpfiff geht, ist kein Spaß, es sei denn, du nimmst dir Dinge raus. Ich zünde mir eine Kippe an und setze mich auf meinen Platz in der fünften Reihe. Ein paar Minuten später kommt Pia dazu. Die Sicht ist trotz olympischer Laufbahn gut. Wir sind viel zu früh – und ganz ehrlich: Das Spiel interessiert mich nicht wirklich – obwohl ein Sieg der Eintracht immer passt. Wir schießen unser obligatorisches Selfie das haben wir schon getan als es dieses Wort noch gar nicht gab, damals noch mit der kleinen Digitalkamera. Auf der Laufbahn liegt ein großes Banner von der UEFA mit dem Eintracht-Adler, Security in gelben Leibchen stehen vor der Kurve und haben nichts anderes zu tun, als uns zu beobachten. Ein Pärchen beschließt, seine Plätze in der dritten Reihe zu beanspruchen, obgleich dort schon Leute sitzen. Es ist noch gar nicht solange her, da hat sich jede/r dort hingestellt, wo er wollte. Aber da waren wir noch weitgehend unter uns. Das Flutlicht am Rande des Daches gleißt in den nachtblauen Himmel, ich gehe noch einmal raus, bleibe alle paar Schritt bei jemandem hängen. Als ich wiederkomme, hat sich die Situation dezent verändert. Ein paar Ultras stehen jetzt vorne in der ersten Reihe, ein Hauch Normalität zieht ein. Das Pärchen, welches seine Plätze beansprucht hatte, macht sich vom Acker. Auch die beiden Selfiespezialisten nebenan ziehen weiter, ansonsten bleibt es ruhig: Keine Trommeln, keine Fahnen. Hie und da gibt es ein bisschen Gezacker wegen Bier im Block. Die Eintracht, erstmals ohne Kostic, der zu Juventus wechseln wird, hält sich wacker und die schlimmsten Befürchtungen, nach dem 1:6 gegen die Bayern noch eine weitere Klatsche zu kassieren, bewahrheiten sich nicht. Real Madrid siegt durch Alaba sowie Benzema mit 2:0, sichert sich den Supercup und tanzt durch den Goldregen.

Auf die SGE wartet die Berliner Hertha am kommenden Wochenende, das wird schwer genug und somit machen wir uns vom Acker und marschieren mit Heike und Jost in Richtung des Töölönsees. Dort trennen wir uns und fallen nach einem Schöppchen recht müde in die Koje.
Morgens weckt uns der liebgewonnene Baulärm und wir rasseln mit der Bahn auf Richtung Esplanade und Hafen. Von dort bringt uns das Linienboot nach Suomenlinna, der Himmel ist bedeckt und wir schippern an kleinsten Inselchen vorbei an der Silja Fähre zur Anlegestelle auf der Festungsinsel. Dort verteilen freundliche Finninnen Wegführer und so lassen wir uns über die Insel treiben, schlendern an gemütlichen Baustellen vorbei und machen hier ein Kaffeepäuschen und legen uns dort auf die jetzt sonnenbeschienenen Felsen. Es ist ein schöner, unaufgeregter Tag, die alten gusseisernen Kanonen bleiben ruhig, ein Hauch von Bullerbü weht durch die Zeit, als uns ein Postauto überholt und die 850 Einwohner mit Stromrechnungen und ähnlichem versorgt.

Nachmittags tuckern wir wieder zurück, essen Rentierfrikadellen samt Kartoffeln und besorgen uns ein paar Souvenirs. Anschließend nehmen wir eine nächste Fähre, ausschließlich, um auf dem Wasser unterwegs zu sei. So steigen wir am Endpunkt gar nicht aus, sondern fahren schnurstracks wieder retour. Der Fahrtwind lässt die Haare im Winde wehen, die Vikingfähre im Hafen erscheint gigantisch. Oben am Dom haben wir Glück, Glockengeläut reist von einer Kirche zur anderen. Jeden Tag um 17:49 Uhr ertönt der „Sound of the Senate Square“ und erfreut das Ohr.

Noch einmal bringt uns die Trambahn in die Unterkunft in der Castréninkatu, die Straßennamen werden wie immer sowohl auf finnisch als auch auf schwedisch angezeigt. Schwedisch verstehe ich bedeutend besser, vielleicht geht es den Finnen genauso. Anschließend bringt uns das Bähnchen in die Nähe des westlichen Stadtstrandes Hietaniemen, der Weg führt uns durch den gleichnamigen Friedhof an die Küste unterhalb des Strandes, in einiger Entfernung zieht sich eine Autobahnbrücke über das Wasser, in dem sich eine Gänsefamilie tummelt. Wir wandern der untergehenden Sonne entgegen, ab und ziehen Joggende vorbei, es ist eine abendliches Idyll und für den Hauch eines Momentes kehrt Ruhe ein, vor allem als wir uns auf die Steinfelsen setzen und den Sonnenuntergang beobachten. Hinter uns steckt eine Schere im Fels, doch da wir nicht König von Finnland werden wollen, lassen wir das Mini-Excalibur stecken. Unten am Strand wirft ein Mann sein Schlauchboot an und peitscht übers Wasser. So legt sich die Nacht über unseren letzten Abend, wir blicken noch einmal aufs Wasser und wandern am Ufer und den Friedhof, dessen Tore noch geöffnet haben zurück zur Haltestelle. Von dort bringt uns ein Bus ruckelig nach Hause.

Am Abreisetag lungern wir in der Wohnung rum, bis es an der Zeit ist, das allerletzte Mal das Haus zu verlassen. Wir lassen den Schlüssel auf dem Tisch liegen, ziehen die Haustür ein letztes Mal zu, der Aufzug bringt uns aus der vierten Etage nach unten und wir marschieren mit unserem Gepäck noch einmal zum Café am Töölönsee. Ein finaler Blick, dann schlendern wir zum Bahnhof runter und fahren zum Airport. Eben sind wir auf den Gleisen in die Stadt geglitten, jetzt haben wir Erinnerungen im Gepäck, die Zeit, die so schnell vergeht, gefüllt mit Momenten. Natürlich sind wir viel zu früh am Flughafen, die Abfertigung geht flott, ich pendele zwischen einem Sitzplatz und dem unwirtlichen Raucherraum, zumal unser Flug sich verspätet. Flughafenstunden sind verwesende Zeit, die auch vergeht. Auf dem Rückflug sitzen Pia und ich getrennt, dabei habe ich Glück und hocke am Notausgang. Neben mir sitzt eine Südkoreanerin aus Göttingen, die während des Fluges ebenfalls von ihrer Familie getrennt wurde. Wir kommen ins plaudern, quatschen über Bum kun Cha und Du Ri, über das geteilte Land und die Zeit vergeht wie im Flug. Das hat Spaß gemacht, danke dafür. In Frankfurt sind Pia und ich wieder vereint, wir nehmen die S-Bahn zur Konsti, dort die 12 ins Nordend – und ich könnte schon wieder weg.

Wobei dies in nächster Zeit nicht mit der Eintracht sein wird, meine europäischen Reisen haben fürs Erste ein Ende gefunden, die Champions-League wird voraussichtlich zumindest auswärts ohne mich stattfinden. Mir fehlt die Lust auf das Reisegehassel, ich bin nicht bereit, die aberwitzigen Flug- und Hotelpreise zu zahlen, die schon in den vergangenen Monate nur zu umgehen waren, so du gewitzte Alternativen finden konntest. Wir haben sie gefunden, damit soll es genug sein. Ich bin Europapokal-Sieger mit der Eintracht. Was will ich mehr?
Wenn sich die Dinge ändern sollten, sehen wir weiter. Irgendwas ist ja immer. Und bleibt mir gesund.