Es regnet. Ich laufe müde durch den nachtdunklen Günthersburgpark. Es sind die letzten Meter einer Tour, die mich binnen 53 Stunden nach Marseille und zurück gebracht hat. Der erste Auswärtsauftritt der Frankfurter Eintracht in der Champions League liegt hinter mir. Und was für einer. Dass es langweilig war, kann man nicht gerade sagen. Der meistgehörte Satz während des Trips lautete: „Pass auf dich auf!“ Das tat ich – und bin froh, gleich wieder zuhause zu sein.

Eigentlich wollte ich ja nicht mehr auswärts mit der Eintracht durch Europa touren – aber wie das so ist: Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm deine Pläne. Obwohl ich eigentlich ganz tapfer war und zum Zeitpunkt der Auslosung weder Marseille, noch Lissabon, noch London gebucht hatte. Ich wollte weder die teils absurden Flugpreise zahlen, noch die Behandlung von Fußballfans auswärts, die Strapazen und die gesamten Kosten dazu ertragen – irgendwann schien mir das Ende der Fahnenstange erreicht, zumal mit dem Sieg in der Europa League und dem abschließenden Auslaufen in Helsinki im Supercup eigentlich ein wunderbarer Abschluss gegeben war. Als jedoch das Angebot der Busreise samt Übernachtung in Marseille zu vernünftigen Konditionen seitens der Fanabteilung ins Haus flatterte, wurde ich schwach und bewarb mich. Allerdings alleine. Pia hatte zu tun und zog es vor, im Lande zu bleiben – begleitete mich aber als ich die Zusage bekam am Montagabend zur Straßenbahnhaltestelle der Linie 12. Ein letzter Kuss, ein letzter Blick, ein letztes „Pass auf dich auf“ – und schon ruckelte die Bahn Richtung Hauptbahnhof. Viel hatte ich nicht in meiner grünen Umhängetasche: Meinen Reisepass, da der Perso abgelaufen ist, ein paar Kabel und zwei, drei Klamotten zum Wechseln. Das wichtigste, meinen Geldbeutel und das Handy, steckten in der kurzen schwarzen Hose mit den vielen Taschen. Und ja, ich gehöre zu denen, die so gar nicht altersgemäß einen Hoodie tragen. Nichts von dem was ich dabei hatte trug ein Symbol oder Zeichen der Eintracht – Marseille ist ein heißes Pflaster und ich wollte mich nicht unbedacht einem Risiko aussetzen. Sogar meinen winzigen Eintracht-Pin löste ich kurz vor Abfahrt von meiner Tasche und ließ ihn im Nordend. Es heißt ja auch: „Wir tragen den Adler im Herzen“ und nicht: Wir tragen den Adler auf teils überteuerten Merchprodukten“.

Als ich am Fernbusbahnhof eintrudelte war ich gut in der Zeit, ein paar Mitreisende warteten im Dunkel, auch Janine von der Fanabteilung, unsere Reiseleitung, war schon vor Ort. Die Busse, es sollten zwei sein, allerdings noch nicht – aber uns blieb bis zur geplanten Abfahrt noch jede Menge Zeit. Peu à peu trafen die Mitfahrer ein, erstaunlicherweise kannte ich außer Steffen niemanden, aber das war nicht tragisch. Ich wunderte mich nur, dass ich viele Eintracht-Klamotten sah und dachte bei mir: Leute, nehmt die Sache ernst. Aber bis zum Mittelmeer war es noch weit. Als die großen schwarzen Setra-Busse gegen acht Uhr eintrudelten, prangte an den Außenwänden der Eintracht-Adler – und ich erstaunte noch mehr. Wir wollen doch nicht mit dem Adler in Marseille einrollen? Genauso gut hättest du auch eine Zielscheibe aufkleben können. Aber lassen wir die Dinge sich erst einmal entwickeln.

Wir checkten ein, bekamen die Tickets in die Hand gedrückt und ich hockte mich gleich in die zweite Reihe ans Fenster, gespannt, wer mein Sitznachbar werden sollte. Wie sich später heraus stellte, war der Bus nicht ausgebucht, der Sitz neben mir blieb zunächst frei – aber wir hatten ja noch einen Stopp an der Wintersporthalle. Mit einiger Verspätung setzten wir uns in Bewegung und rollten ans dunkle Stadion. Ich rauchte eine letzte Zigarette während finale Details geklärt wurden, dann enterten wir die Autobahn. Der Platz neben mir blieb immer noch leer – und darob war ich auch nicht böse.

Frank, einer der beiden Fahrer, hielt eine kurze Ansprache und erklärte, dass die Außenschilder magnetisch seien und in Frankreich abgenommen werden würden. Er wies auf die Gefahren in Marseille hin und sprach von 70.000 Ultras in der Stadt am Mittelmeer. Bei allem Respekt, ganz so viele sind es dann doch nicht. Aber recht hatte er mit dem dortigen heißen Pflaster. Unser Bus war wie der andere auch hoch komfortabel. Ausgerüstet mit USB-Steckdosen, ausreichend Beinfreiheit, Kocher an Bord – das versprach Gutes. Nur W-Lan gabs nicht für uns. „Des kost Geld und des hat die Eintracht net bezahlt.“ Na gut. Der Plan sah vor, alle zwei, zweieinhalb Stunden eine Pause einzulegen, was ich angesichts der Tatsache, eine Toilette an Bord zu haben und wir zudem mit einer gute Stunde Verzögerung ablegten für nicht zwingend notwendig hielt, aber wenigstens die Option zu rauchen beinhaltete. Auf ins Abenteuer Champions League. Auf nach Marseille.

Immerhin schaffen wir es bis kurz hinter Freiburg ohne Rast und haben schon ein gutes Drittel der Strecke geschafft, als wir erstmals stoppen. Zu diesem Zeitpunkt spuckt das Navi eine geplante Ankunftszeit von acht Uhr in der Frühe aus. Die Fahrer tanken noch einmal die Busse auf, ich rauche und sehe, dass Thommy im anderen Bus sitzt. Auch er ein alter Hase, der im Gegensatz zu mir schon bei Galatasaray dabei gewesen ist. Damals, als sich nur eine bessere Handvoll Eintrachtler auf die Reisen durch Europa aufgemacht hatten. 30 Jahre ist‘s her.

Die Pause zieht sich, doch dann geht‘s weiter durch die französische Nacht. Ich höre mir das Hörbuch Lost in Fuseta – Spur der Schatten an und träume mich an die Algarve nach Portugal. Im Bus ist es ruhig, ab und ab tapert jemand nach vorne und holt sich ein Bier, ansonsten schieben wir uns über die wenig befahrene Autobahn Richtung Lyon, halten immer wieder mal – nur wirklich schlafen kann ich nicht. Mal dämmere ich kurz weg, dann stehe ich irgendwo in Frankreich und rauche. Besancon, Dole, Macon. Hinter Lyon fahren wir zwischen der Saone und der Rhone in den Sonnenaufgang des Spieltags, rollen vorbei an den riesigen Öltanks, die ich erstmals Anfangs der 80er Jahre gesehen hatte. Bei einer Mautstation knallen wir mit dem Außenspiegel an einen Pfosten, Frank flucht über seinen Fahrer – aber es ist nichts beschädigt.

Die letzten Kilometer ziehen sich, zumal wir 90 Minuten vor Marseille noch eine längere Pause machen. Ich bin ziemlich müde und hätte mich eigentlich gefreut, möglichst früh in der Unterkunft zu sein, mich lang zu machen, um dann die Stadt zu erkunden. Jetzt stehe ich hier und warte in den Tag– aber was soll‘s, ändern kann ich eh nichts – nehmen wir die Dinge mit Würde hin. Immerhin, wenig später ist Marseille in Sicht, ich höre Ana Mouras Dia de folga:

Cada dia é um bico d’obra
Uma carga de trabalhos, faz-nos falta renovar Baterias,
há razões de sobra para a tristeza ir de volta e o fado celebrar.

(Every day is a piece of work
A load of work, we need to renew Batteries,
there are plenty of reasons for sadness to return and fado to celebrate.)

Die Hafenstadt am Mittelmeer empfängt uns mit milden Temperaturen aber diesig. Der Fahrer eines Transporters hängt einen Olympique-Schal aus dem Fenster als er uns aus dem Rückspiegel erkennt, wir fallen auf. Die geplante Route wird ob der Höhe unserer Busse kurzfristig geändert mit 3,90 Metern kommst du nicht überall durch und so schieben wir uns zwischen Hochhäusern und graubraunen Gebäuden runter Richtung Fährhafen, stehen in Staus, erste Mittelfinger werden uns entgegen gereckt, es werden nicht die letzten sein. Entweder zücken sie ihre Handys oder begrüßen uns freundlich mit dem Gruß der Unfreundlichen.

Die Fanabteilung hat für uns zwei Hotels gebucht, meines liegt in relativer Nähe des späteren Treffpunktes am Place de la Joliette, das andere gut acht Kilometer entfernt außerhalb der Stadtmitte. Unmengen von Polizeiautos zeigen uns an, dass wir uns dem Place de la Joliette nähern. Ich schlage vor, diejenigen, die ihre Unterkunft in der Nähe beziehen sollen, weiter vorne raus zu lassen. Der eigentliche Plan sah vor, zuerst ins andere Hotel zu fahren, um uns dann mit Taxis in die Stadt zu bringen. Aber wenn wir schon einmal hier sind … Unser Busfahrer wirkt angespannt und lässt nicht mit sich reden, also fahren wir weiter. Und quälen uns durch die verstopfte Stadt, Polizei versperrt geplante Wege, irgendwann landen wir im Gassengewirr der Altstadt, die man besser zu Fuß erkundet. Hinter uns taucht auf einmal eine Art Fanmarsch auf, alle in schwarz, es ist nicht ersichtlich, ob es unsere Ultras sind oder Franzosen. Im Bus wird es hektisch, doch der Stau vor uns löst sich rechtzeitig auf. Falls es Franzosen waren ist das ausgezeichnet.

Im Gassengewirr verheddern wir uns, müssen wieder den Weg zurück auf dem wir uns mühsam bis hier durchgekämpft haben . Mit Ach und Krach schaffen wir es, in der Enge ohne Schaden um die Ecke zu biegen. Minute um Minute verrinnt bis wir wieder auf der richtigen Route sind. Handys, Mittelfinger. Eine Stunde nach Ankunft in Marseille fahren wir am Velodrom vorbei, dann geht‘s halbwegs zügig an einem Strand vorbei zum Hotel – doch acht Mitreisende müssen wie auch ich wieder zurück in die andere Unterkunft. Allerdings scheitertdie Organisation der geplanten Taxis zunächst, das Wort vom Streik macht die Runde. Jetzt heißt es, die Nerven zu behalten. Die anderen checken ein – und neun von uns hocken auf den Stufen vor dem Hotel und wissen nicht, wie es weiter geht. Janine bewahrt die Ruhe und hängt am Telefon – sie schafft es tatsächlich, drei Taxis zu organisieren, die nach weiteren 20 Minuten allerdings noch nicht in Sicht sind. Dann fährt eines vor. Es ist allerdings keines der unsrigen. Nach weiteren zehn Minuten folgt die Info, dass es hier im Hotel plötzlich doch neun freie Zimmer gibt. Sieben von uns sagen zu, zwei überlegen noch. Die Taxis sind ja auf dem Weg, dass dies dauert, zeigte unsere Fahrt mit dem Bus. Wenn jetzt alle die Zimmer hier nehmen, muss die Abteilung die anderen verfallen lassen, diese hier zusätzlich zahlen und zudem die Taxifahrer enttäuschen. Ich bin hin und her gerissen, zumal das andere Hotel strategisch günstiger liegt. Aber als nach fünf Minuten noch immer kein Taxi in Sicht ist, will auch ich der Warterei ein Ende bereiten und sage zu, ebenfalls hier zu bleiben. Kaum habe ich diesen Gedanken ausgesprochen, biegt ein Taxi um die Ecke – es ist für uns. Im Sekundentakt kommen auch die anderen beiden Wagen. Also fahre ich doch wie geplant zurück in die Stadt, nur Mario kommt mit. Zwei Taxen müssen unverrichteter Dinge wieder abziehen, die anderen Mitfahrer bleiben hier im Hotel.

Unser Fahrer ist gut drauf, bewundert Audi und Mercedes, mag Peugeot gar nicht und bringt uns wortreich vorbei am Stadion und den Marktständen an der breiten Zufahrtsstraße zurück in die Stadt. Mit jedem Meter fällt eine innere Spannung von mir ab und wird durch eine Ahnung von Erleichterung ersetzt. Kurz vor dem Hotel verknoten wir uns noch einmal in den Straßen, dann landen wir um 14 Uhr wohlbehalten am Zielpunkt. Clara, eine Kollegin von der Reiseleitung des Eintracht-Partners Liga Travel empfängt den Wagen, zahlt das Taxi und begleitet uns in die Unterkunft. Wir checken ein und verabschieden uns von ihr, die in Frankreich aufgewachsen ist und in Frankfurt arbeitet. Sie meint zu mir mit leicht französischem Akzent bar jeder Ironie: „Und bitte tragen Sie keine Sachen von Eintracht Frankfurt, isch möschte nischt, dass sie sterben. Das ist lieb.

15 Minuten später bin ich zurück auf der Straße. Gewaschen und gekämmt ziehe ich durch die Gassen Richtung Hafen. Die Aussage von Clara nehme ich ernst ohne panisch zu werden, inkognito bin ich sowieso. Die Eindrücke sind fast zu viele, das Sortieren der letzten Stunden will nicht so ganz gelingen, der mangelnde Schlaf, die Gewissheit, tatsächlich in Marseille zu sein, die latente Hab-acht-Stellung, die dezente Unruhe sorgt für innere Verwirrung. Ich besorge mir erst einmal eine Coke aus dem Kühlschrank eines kleinen Ladens, doch kein Verkäufer ist in Sicht. Ich entdecke ihn nach einigen fragenden Blicken hinter seinem Tresen. Er schläft. Hoffentlich. Olá. Keine Reaktion. Salut. Bonjour. Nix passiert. Ich werde lauter: HALLOHALLO. Endlich regt sich der junge Mann. Er blinzelt verschlafen in den Tag und murmelt: Une Euro. Ich gebe ihm zwei, er schiebt mir einen zurück. Merci. Au revoir. Er legt sich wieder hin. Dann schlendere ich runter zum Yachthafen, will ein bisschen was sehen, doch zieht es mich zeitgleich weiter. Schade, dass mir die zwei Stunden fehlen, ich komme mir vor wie ein Japaner in Heidelberg auf Europatour, der am gleichen Tag noch Berlin und Hamburg machen wird.

Von meiner inneren Unruhe getrieben werfe ich ein paar Blicke auf die im Wasser schaukelnden Bootchen, wandle durch die von Restaurants gesäumten Arkaden und treibe weiter. Gegen 16 Uhr will ich mal am Treffpunkt vorbei schneien, unsere Busse werden irgendwann dort eintrudeln, Janine hält mich auf dem Laufenden. Dann erwische ich meinen Moment der Stille, blicke aufs Meer, bin alleine. Ein Motorboot schiebt sich hinaus, etwas sackt in mir. Das war mein Bild der Ruhe, der Moment, in dem die Zeit für einen winzigen Augenblick still steht – und die Kraft in Ansätzen zurück kehrt. Kurz vor dem Place de la Joilette treffe ich auf ein paar Leute, auch Teile der UF hocken entspannt vor einem der Restaurants. Ich erfahre, dass ein kleiner Fanmarsch geplant ist und hätte eigentlich Lust, mitzulaufen, aber man weiß ja nie wo er endet und ich hatte Pia versprochen, keine Faxen zu machen. Eine andere Überlegung war, das Spiel sausen zu lassen und mich einfach in Marseille locker zu machen und auf den ganzen Rotz, der wie auch immer noch folgen wird, zu verzichten und dem Gehassel aus dem Weg zu gehen. Eine finale Entscheidung ward noch nicht getroffen. Ich mache es abhängig davon, was in den nächsten 90 Minuten noch passieren wird.

Auf dem Platz ist zu meiner Überraschung weniger los, als ich erwartet hatte. Gude hier, Gude da, Polizei überall, aber relative Ruhe. Von einer Bühne am anderen Ende tönt Musik, die Fressbuden auf dem Gelände halten ihre Türen verschlossen, aber rundum scheint es Möglichkeiten zu geben. Reiner weist mich darauf hin, dass um die Ecke eine Art Kaufhaus mit Essensständen gäbe, dies scheint mir verlockender als Burger King oder ein Döner. Ich verlasse den Platz und tatsächlich finde ich den Laden, bestelle mir eine belegte Foccacia, hocke mich in die klimatisierte Halle und finde einen Moment Ruhe. Unser Bus steht derweil im Stau und ich habe nach dem Essen genügend Zeit, die sich vor Ort füllenden Shuttlebusse zu beobachten. Dicht gepresst drängen die Frankfurter hinein. Katja und Alex drücken mir ein Bier in die Hand, es sollte das einzige des Tages bleiben. Ich schlenderte mal hier hin, mal dorthin, quatsche mal hier mal da, treffe die obligatorische Fat Boys Gang sowie Familie Minden und sehe Heike, die gerade mit der Fußball 2000 Gang unterwegs ist. Irgendwann setzen sich die Shuttlebusse in Bewegung, der Platz leert sich merklich und auch unser Bus nähert sich mittlerweile dem Gelände. Ich bin ganz froh, mich einerseits nicht schon wieder eine Stunde im Bus durch Marseille quälen zu müssen, andererseits gleich einen Platz im klimatisierten Bus mit ausreichend Space zu finden. Allerdings ist es nicht so, dass die Busse der Abteilung, wie auch die der Tagesflieger oder die Fanbusse sofort weiterfahren. Sie sammeln sich dort, wo zuvor die Shuttlebusse parkten, ich steige bei uns ein und harre der Dinge die da kommen werden – doch es passiert erst mal gar nichts. Wir stehen und warten und stehen und warten.

Irgendwann hat sich alles gesammelt, Blaulicht vorneweg, Blaulicht mitten drin und der imposante Konvoi setzt sich in Bewegung, nur um gleich darauf wieder anzuhalten. Einige Minuten später geht es los, Motorräder preschen hin und her, wir umrunden die Stadt, Tausende stehen mit ihren Autos im Stau, recken uns die Mittelfinger entgegen, bepöbeln uns. Wir quetschen uns millimetergenau durch die Reihen stauender Autos, Roller sausen dicht an uns vorbei, wir durchqueren Tunnels, wenden auf engsten Raum auf einer dicht befahrenen Straße. Der ganze Hass, der uns entgegenschlägt, hat schon etwas Erhabenes. Diese Wucht musst du dir auch erst einmal verdienen. Klar, ein entspannter Spaziergang zum Stadion wie in Tallinn oder Vaduz käme meiner Art zu reisen eher entgegen, aber vom Erlebnisfaktor ist das hier gerade eine 10. Wir nähern uns nach annähernd einer Stunde Fahrt dem Stadion, Menschen stehen auf den Balkonen, filmen und bepöbeln uns. Näher am Velodrom sind Balkone bis zur fünften Etage mit wuchtigen brettähnlichen Vorbauten verschalt, Polizeiautos parken am Rand, Militärfahrzeuge dazu. Es ist abenteuerlich. Dann verschwinden die Busse wie geplant in der Tiefgarage, werden auf die Parkplätze eingewiesen – und Gott sei Dank sind diejenigen, die mit den Shuttlebussen angekommen sind, schon auf ihren Plätzen. Kein Mensch außer Polizei und Ordner ist an den Einlassgittern zu sehen. Ich bin, warum auch immer, der erste, der darauf zumarschiert. Ein Feuerzeug in der Hand das andere sicher verstaut, tastet mich ein Ordner ab, das macht er nicht rabiat, nur meine hohen Chucks muss ich ausziehen und nestle die Schnürsenkel auf. Auf Socken latsche ich durch den Kartenscanner, das Licht leuchtet grün, ich marschiere durch, ziehe meine Schuhe wieder an und spaziere graue Betontreppen nach oben. Mit beiden Feuerzeugen. Vor dem Einlass der Heimfans erspähe ich durch einen Spalt leuchtende Bengalos. Wasser tropft durchs Treppenhaus, große Lachen bilden sich. Ich hoffe, dass es Wasser ist. Dann werfe ich einen Blick ins Stadioninnere, ich bin auf Höhe der UF und beschließe ganz nach oben zu wandern, Auf der Treppe im Stadioninneren kommen mir Heike, Frank und Marvin entgegen, weiter oben sitzen Basti und Julian und genau dahin gehe ich. Drehe mich um und blicke ins weite Rund des Velodroms. Grüner Rasen, geschwungenes Dach, beide Hintertorkurven besetzt mit Fans von Olympique Marseille, die einen höllischen Rabbatz machen. Okay. Bin drin.

Ich breite mit Blick auf den Rasen beide Arme aus und atme einmal tief ein und aus. Der Blick ins Velodrome ist phantastisch, das geschwungene Dach, die gewagten Rohrkonstruktionen der Träger. Die Höhe. Die gefüllten Tribünen. Genau dafür hat sich die Reise gelohnt, diesen Blick wollte ich haben. In der Kurve der Marseillaner neben uns explodiert ein Böller. Wechselgesänge. O-lym-pique, O-lym-pique. Klingt wie: Auswärtssieg! Wieder ein Böller.

Alles was anschließend passiert, kann ich heute nicht mehr zeitlich genau einordnen, ich habe es angesichts dessen, was dann geschieht wohl im Detail verdrängt – auch weil mein Blick immer wieder auf den Teil der Heimkurve fällt, die links neben uns den unterschiedlichsten Aktivitäten zugetan ist. Der Typ mit der Flagge Palästinas. Die Mittelfinger. Die, die plötzlich aus dem Stadion treiben. Ich sehe unsere Torhüter, die mit Pfiffen seitens der Olympique-Fans empfangen werden. Das Warmmachen der Mannschaften. Marvin und Heike finden ihre Plätze neben mir, Malisa kommt kurz hoch. Böller explodieren. Groß, die Champions-League-Hymne erstmals im fremden Stadion zu erleben zu dürfen. Marseille zieht eine Choreo auf. Anpfiff, wir supporten, die Eintracht mit Hasebe in der Startelf. Zwischendrin fliegt Feuerwerk auf beiden Seiten hin und her, die erste Rakete landet im Marseilleblock. Böller nur auf Seiten der Franzosen, aber nicht geworfen. Eine Reihe behelmter Polizisten steht am Rand des Zauns auf unserer Seite, wir sind immerhin außerhalb der Reichweite der Pyrotechnik – so wird es die folgenden 96 Minuten gehen.

Plötzlich winken Eintracht-Fans unten links Polizisten herbei, wir können nicht genau erkennen was geschehen ist, die Aufregung ist groß. Mittlerweile kommen immer mehr Leute zu uns hoch und retten sich damit außerhalb der Reichweite des Feuerwerks. Auch Malisa und Timo kommen bei uns unter. Guido kommt vorbei und schildert die Situation. Einen von uns hat eine Rakete getroffen. Flammen, Blut, schwere Verletzung, näheres noch nicht bekannt. Bedröppelt hocken wir da. Fußballerisch ist zu berichten, dass die Eintracht nach 43 Minuten durch Lindström in Führung geht. Das erste CL-Tor ever für die Eintracht. Geschichte. Mittig der zweiten Halbzeit dringt die Meldung durch, dass der verletzte Eintrachtler stabil ist, ein zaghafter Support setzt ein, nach einer Stunde ist Marseille am Drücker, anschließend kommt die Eintracht zu Chancen, Böller um Böller explodiert. Und dann macht Kamada das 2:0 – doch es bahnt sich an, dass es Abseits war. Und so fällt auch der Videobeweis aus, gefühlte 0,7 mm. Wir feiern den Treffer dennoch. Es kursieren mittlerweile Videos, dass mindestens ein Eintrachtler oder zumindest einer, der sich dafür hält, den Hitlergruß gezeigt hat und sich dabei hat filmen lassen. Arschloch. Natürlich macht das sofort die Runde. Schlagzeilen, als hätten Hunderte marodiert. Immer wieder wechselt Feuerwerk die Seiten. Wundersamerweise lassen sich die ausgewechselten Spieler von Olympique massig Zeit beim Verlassen des Platzes, was der Marseillaner Anhang mit Pfiffen und Böllern kommentiert. Es ist ein absonderliches Spektakel das sich hier und jetzt abspielt, zumal weder die Spielleitung noch die Zuschauer auf den besseren Plätzen sich sonderlich irritiert zeigen. Rode bringt Belebung ins Spiel der Eintracht, dann ist nach 96 Minuten Schluss. Mit dem Spiel. Die Mannschaft kommt zu uns in die Ecke, wird für den ersten Champions-League-Sieg aller Zeiten (sieht man einmal vom Europapokal der Landesmeister 1959/60 ab) gefeiert, die restlichen Pyrovorräte werden verballert, dann hocken wir da und warten. Nebenan verweilt auch der harte Kern der Franzosen noch relativ lange, bis er irgendwann von den Ordnern nach draußen komplimentiert wird. Er durfte sich aber noch in voller Länge „Im Herzen von Europa“ anhören.

Nach einer Stunde des Wartens dann das schönste Bild des Abends. Ein leuchtender Bengalo schwebt, an einem Fallschirmchen hängend, wie ein glühendes Herbstblatt über das Dach geschossen bedächtig aus luftiger Höhe auf den Rasen. Romantischer wird es heute nicht mehr. Vor allem, da Tausende Eintracht-Fans nach 90 Minuten immer noch keinen Schritt weiter sind. Franco gibt mir eine Cola aus, hier und da wird mal an einem Gitter gerüttelt, ansonsten fügen sich die meisten stoisch in ihr Schicksal. Schrittchen für Schrittchen geht es anschließend von der fünften Etage nach unten in die Tiefgarage. Als wir unten ankommen, setzen sich gerade fünf bis zum platzen gefüllte Shuttlebusse in Bewegung, die Lüftung ist brüllend laut, die Abgase nebeln uns dennoch ein.

Nach einer weiteren Viertelstunde trudeln die nächsten Busse ein. Ich habe die Wahl, irgendwann mit dem Abteilungsbus ins weit entfernte Hotel zu fahren, um dann eventuell ein Taxi zurück in die Stadt zu nehmen oder gleich mit einem der Shuttles zu fahren – und entscheide mich für Letzteres. Als sich die Türen öffnen, drängt alles in die Busse; eingepfercht wie die Ölsardinen quetschen wir uns in jeden freien Millimeter, die Tür schlägt mir ins Genick, aber ich bin drin. Schweiß läuft aus allen Poren, allerdings bewegen wir uns zunächst kein Stück. Nach einer gefühlten Ewigkeit setzen wir uns in Bewegung und verlassen in dezenter Polizeibegleitung das Stadion. Mittelfinger begleiten uns auf unseren Wegen, die Leute springen aus den Restaurants auf und teilen uns mit wütenden Gesichtern ihre Abneigung liebevoll mit. Unterwegs rennt die örtliche Jugend aus den Seitengassen und bewirft uns mit Steinen, beim Bus hinter uns zerspringt die gläserne Tür

Als wir nachts um zwei nach einiger Warterei endlich wieder am Place de la Jolliet ausgespuckt werden, beginnt der heikelste Teil des Abends: Heil die Unterkünfte zu erreichen. Frank, Malisa und Timo bieten mir an, noch mit ihnenn in deren 300 Meter entferntes Hotel zu kommen, dort noch ein Bier zu trinken, um dann ein Uber zu nehmen, aber ich will nur noch heim. So checke ich mit dem Navi den Weg, der 20 Minuten dauern soll. Ich marschiere los und schiebe mich Meter um Meter voran. Plötzlich Rennerei, die mir entgegen kommt, es sind Frankfurter. Gegenüber von mir bleiben sie stehen. „Was ist los?“ frage ich und bekomme zur Antwort: „Hast du den Schrei nicht gehört? Da drüben haben sie einen abgestochen.“ Ach du Scheiße. Vor mir liegen noch 1000 Meter. Und zwar genau „Da drüben“. Ich weiß nicht, ob an der Geschichte was dran ist, ich will es auch gar nicht genau wissen und beschließe die Nerven zu behalten. Vielleicht wäre es doch nicht blöde gewesen, ein Bierchen zu trinken. Jetzt ist es zu spät. Der andere Trupp setzt sich wieder in Bewegung und zwar genau in die Richtung, in die ich auch muss, ich laufe am Rande unbeteiligt mit. Plötzlich hält ein PKW neben uns. Vier Männer jüngeren Alters sitzen drin, rufen aus dem Fenster: „Parlez-vous francais?“ Jemand ruft „No, no we need help“. Antwort: „We are the Police“ und ich weiß nicht, ob ich der Sache trauen darf. Zwei springen aus dem Auto – und es sind tatsächlich Polizisten. Sie begleiten uns in zivil bis zur nächsten Ecke, an der ich links abbiegen muss. Knappe 800 Meter liegen vor mir. Ich lasse die Truppe marschieren und laufe eine dunkle Straße nach oben. Irgendwann stecke ich das Handy in die Hosentasche, ab jetzt sollte ich den Weg finden, das leuchtende Display verrät nur den Ortsfremden. An jeder Kreuzung luge ich nach links und rechts, aber mir begegnet nichts Auffälliges. Eine Ratte huscht vor mir über das Trottoir, relative Stille dann. Eine große Kreuzung gilt es noch zu überqueren, ein paar Jungs auf kleinen E-Scootern sausen an mir vorbei, dann sehe ich die Leuchtbuchstaben des Hotels grün leuchten. Greet. Geschafft. Selten war ich so froh, heile nach Hause gekommen zu sein. Es ist mittlerweile kurz nach halb drei. Zeitgleich trifft Mario ein, der es auch ins Hotel gepackt hat.

Oben angekommen gebe ich Entwarnung, aber an Schlaf ist vorerst nicht zu denken. Am Fenster rauche ich eine Zigarette, schaue auf den nahezu menschenleeren Platz und checke die letzten News. Anschließend stelle ich mir den Wecker. Auf 8.30 Uhr. Und sicherheitshalber auf 8:45 und 9 Uhr. Und dann falle ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf, der gefühlt nach wenigen Sekunden endet. Es IST 8 Uhr 30. Ich stehe auf und dusche. Eiskalt.

Das Frühstücksbuffet ist charmant, die freundlichen Angestellt:innen pressen Orangen aus, zaubern Crepes und schneiden dunkles Brot in dicke Scheiben. Dazu gibt es appetitliche Salami, zarten Schinken und Joghurt oder Nutella. Wenig später checke ich aus. Das gestern georderte Taxi ist pünktlich um 10:15 Uhr vor Ort und schon rauschen wir wieder durchs Gewimmel zum Hotel der anderen. Wenig später sitzen wir im Bus auf den alten Plätzen und verlassen Marseille, diese räudig-widersprüchliche Stadt auf einem Weg, den wir besser auch auf der Hinfahrt genommen hätten. Bald hat uns die Autobahn wieder, Kilometer um Kilometer spulen wir ab, unterbrochen durch etliche Pausen, im Bus herrscht angenehme Stille, ich höre mein Buch zu Ende, immer wieder fallen mir die Augen zu. Bei Besancon klatscht der Regen auf die Scheibe, kurz vor der Grenze verlassen wir wegen einer Sperrung die Autobahn, erreichen Deutschland, tanken ein letztes Mal vor Freiburg. Offenburg, Karlsruhe, Heidelberg. Ein finaler Stopp in Bensheim, dann endlich die letzten Kilometer, bis wir über die Messe Richtung Hauptbahnhof rollen. Ich verabschiede mich hastig und eile zur S-Bahn, die nur wenig später einfährt und mich an der Konsti entlässt. Nebenan scheint ein kleiner Streit mit den Worten „Ich bin nicht mehr gewalttätig, ich versuche Respekt zu zeigen“ sich den Ende entgegen zu neigen. Auf der Rolltreppe sprich mich der Typ an: „Was meinste?“ und ich antworte: „War völlig okay. Cool.“

Mit dem Nachtbus, der alsbald kommt, fahre ich hoch an die Weidenbornstraße und steige todmüde aus. Es regnet. Ich laufe müde durch den nachtdunklen Günthersburgpark. Es sind die letzten Meter einer Tour, die mich binnen 53 Stunden nach Marseille und zurück gebracht hat. Pia schläft, doch als ich den Schlüssel umdrehe, ist sie sofort hellwach. „Da bin ich wieder“ sage ich. Sie fällt mir um den Hals: „Das ist schön!“