Die letzten Meter wird es kalt. Leicht bekleidet schleppen wir die Rucksäcke von der Straßenbahnhaltestelle Rohrbachstraße die paar Meter hoch in unsere Wohnung. Es ist Sonntag Morgen, der 29. März, die Straßen sind noch leerer als sonst an einem Sonntag in Frankfurt. Hinter uns liegen knapp 20 Tage, die als Urlaub begannen und uns sehenden Auges in eine weltweite Katastrophe entließen. Kurz bevor Corona Deutschland in Geiselhaft nahm, flogen wir nach Thailand. Am Abend zuvor hatten wir noch in geselliger Runde mit leichter Vorsicht den 80. Geburtstag meines Vaters gefeiert. Kaum waren wir in Bangkok gelandet, war die Welt in Deutschland eine andere. Doch der Reihe nach.

Lange schon war der Flug gebucht: Vergangenen Juni hatten wir uns entschieden, im März 2020 wieder einmal auf die Insel in der Andamanensee zu reisen. Die Insel, die ich 2015 entdeckte und auf der ich die wohl besten Wochen meines Lebens verbracht hatte. 11 Stunden Flug, 10 Stunden im Bus und zwei Stunden auf dem Slow Boat bringen dich dorthin. Groß die Vorfreude über das Jahr, welches mich zwischendrin nach Helsinki und Tallin, nach Vaduz und Straßburg brachte, nach Lüttich und London, nach Hamburg, Berlin und Rostock und nach Salzburg – doch fast alle dieser Reisen hingen mit der Eintracht zusammen. Jetzt endlich sollte die ersehnte Auszeit kommen, die innere Reinigung, Entschleunigung, neues Gedankensammeln. Kein Fußball, kein Frankfurt. Lustigerweise verpassten wir ja 2018 das erste Auswärtsspiel im Europacup in Marseille, da wir zu dieser Zeit einen Urlaub auf Korfu gebucht hatten. Da Olympique jedoch einem Fanausschluss unterworfen wurde, durfte niemand von uns dort hin. Anschließend hatte ich alle Europacup Spiele der Eintracht gesehen, ob zuhause oder away – und witzelte schon, dass bei unserer Thailandreise so die Eintracht noch im Wettbewerb ist, irgend etwas passiert. WAS jedoch geschah, verhagelte die Witzelei.

Als wir in den Flieger nach Bangkok stiegen, standen die beiden Partien gegen Basel an, zunächst das Heimspiel. Als wir auf der Insel landeten, hatte die Eintracht in der Nacht ohne Zuschauer mit 0:3 gegen Basel verloren – und es war klar, dass in den kommenden Wochen gar kein Fußball mehr gespielt werden kann, die Ereignisse überschlugen sich ohne unser Zutun. Unsere Sorge galt jedoch nicht der Eintracht und auch nicht dem Spiel. Als wir losflogen, dachte ich: Macht das jetzt mal alles ohne mich. Ich bin für die nächsten knapp vier Wochen raus. Zwei Tage zuvor hatte ich noch einen Stadtrundgang auf den Spuren der Eintracht durchgezogen, hatte die Arbeit der sozialen Medien für das Eintracht Museum in die Hände meiner Kollegen Ana und Matze gelegt. Am Morgen des 10. März wollte ich nur noch eines: Rauf auf die Insel. Der Rückflug war für den 1. April geplant, die Landung in Frankfurt am 2. Wir hatten erstmals einen Direktflug gebucht. Das erste Mal nach Thailand bin ich über China geflogen, das nächste Mal über Katar – heuer ein Experiment, welches sicher zum Scheitern verurteilt gewesen wäre.

Mein kleiner grüner Rucksack begleitete mich wie stets, wenn ich unterwegs bin. Neulich in Salzburg war er genau so voll, wie jetzt, als wir ihn mit Pias Gepäck am Schalter aufgaben. Mit der Bahn kamen wir am Airport an, vorbei am Yeboah Haus in Niederrad, vorbei an unserer zweiten Heimat, dem Waldstadion. Die Bahn war voller Fahrgäste, der Flughafen schien etwas weniger belebt zu sein als sonst. Schaffen wir es in den Flieger? Nach Bangkok? Nach Ranong? Auf die Insel?

Die Rucksäcke hatten es auf jeden Fall auf das Gepäckband geschafft, 7,5 Kilo – mit dabei vier Bücher, ein Hoodie, der nur auf dem Reiseweg gebraucht wird, fünf Päckchen Tabak, eine Bluetooth Box und eine Regenjacke. Als wir loszogen nieselte es – und eine Erkältung wäre das dümmste, was uns jetzt passieren konnte – so dachten wir.

Mit leichtem Handgepäck warteten wir auf das Boarding, das mehr oder weniger pünktlich begann. Unser Flieger war eine große A-380, der Platz neben uns blieb leer, wie überhaupt der ganze Flieger bei weitem nicht ausgebucht war. Hand in Hand hoben wir ab, verließen Frankfurt am Mittag des 10. März, grau und nieselig der Tag, tropfenbehangen die Fenster. Kaum saßen wir, lief auf dem kleinen Monitor vor mir der erste Film. Joker. Guter Film. Ein durchaus schmackhaftes Pad Kra Pao wurde serviert, und so schwebten wir über Europa und Asien, über die Türkei und Indien, über die Andamanensee – bis wir am frühen Morgen des 11. März in Bangkok landen.

Die Einreise verläuft problemlos, abgesehen davon, dass ich erstmals meine Fingerabdrücke abgeben muss. Auch unser Gepäck kommt an, auch wenn mein kleiner grüner Rucksack der letzte ist, den das Laufband ausspuckt. Die Fiebermessstationen kümmern sich nicht um uns, auffällig jedoch die Maskendichte. Fast jeder der arbeitenden Bevölkerung trägt eine der kleinen grünen Gesichtsmasken, Desinfektionsmittel stehen überall bereit – und keine halbe Stunde nach Ankunft ist klar, dass das Thema Corona hier weitaus präsenter ist, als in Deutschland. An einem ATM ziehen wir ein paar Baht, gehen vor die Tür, um eine erste Zigarette zu rauchen – und die Hitze und Luftfeuchtigkeit trifft uns erstmals in der südostasiatischen Heftigkeit. Wir haben es geschafft, die erste Hürde, die Einreise nach Thailand ist genommen. Da ich befürchte, auf dem Weg in die City mit dem Taxi endlos im Stau zu stehen, nehmen wir für die ersten Kilometer die U-Bahn. Steigen am Flughafen nur verhältnismäßig wenige Menschen ein, so wird die Bahn bald darauf proppevoll – und alle Thais bis auf ganz wenige Ausnahmen tragen Schutzmasken. Einzig wir Farrangs blasen unsere Viren ungefiltert in die Luft. Und so dringt schon auf der ersten Fahrt in Bangkok das Virus massiv in unser Bewusstsein und der Gedanke dräut, dass im hochzivilisiertem Deutschland die Problematik viel zu lange auf die leichte Schulter genommen wurde.

Vom Bahnhof Phaya Thai geht es mit dem Taxi weiter in die Samsen Road, Die Fahrt ist zivilisiert, der Fahrer selbst trägt Maske und auch während der Fahrt ist Corona ein Thema. In der Soi 5 steigen wir aus und laufen die paar Meter nach unten zur Abzweigung Richtung NewPhiman, unserer Unterkunft, vorbei an parkenden neuen und vorbei an parkenden alten Autos. Aus der Baustelle an der Rama VIII Brücke ist eine große Halle geworden, das Hinweisschild zur Unterkunft hingegen wurde kleiner. Wer sie nicht kennt, wird sich schwer tun, diese zu finden. Wir kennen den Weg, wandern die schmalen Gässchen entlang. Die Vogelkäfige hängen noch immer an der Wand, derzeit nur ohne Vögel. Mit der ausgestreckten Hand können wir in die offenen Wohnungen fassen. Noch zwei, drei Mal geht es um die Ecke, schon stehen wir vor dem Tor zur Unterkunft. Es ist offen, es ist keine acht Uhr in der Früh, wir sind müde. Durch die Zeitverschiebung von sechs Stunden aber auch etwas irritiert. In Deutschland läge die Nacht noch vor, jetzt haben wir sie bereits hinter uns. Das NewPhiman ist eine kleine, sehr einfache Gartenanlage direkt am Chayo Praya, der Fluss, der sich durch Bangkok windet. Am Ufer führt ein neuer Holzsteg direkt an den paar überdachten Liegestühlen vorbei. Rechter Hand schiebt sich die seilgespannte Brücke über den Fluss, die ersten Kähne tuckern an uns vorüber, ein leichter Wind weht.

Ben, der die Unterkunft verwaltet, ist schon am werkeln. Wir werfen das Gepäck in den Waschraum, unser Zimmer ist noch nicht bereit, so wandern wir in leichter Kleidung und Flipflops zurück auf die Samsen Road. Ein paar Meter weiter um die Ecke frühstücken wir, Mango, Ananas und Müsli und ein Shake dazu – nachdem Pia erst einmal ein paar Masken besorgt hatte. Noch tragen wir sie nicht. Kaum ein Farrang trägt eine Maske und auch nicht alle Thais – wir sind unsicher. Anschließend laufen wir ein paar Meter weiter und klären die Nachtfahrt für den morgigen Tag nach Ranong. Im 32-Sitzer geht es hier nahe der Khao San Road los, wir bekommen zwei Plätze und mit den Tickets in der Hand geht’s zurück in die Anlage. Die lauten Busse röhren an uns vorbei, die Scooter kennen keine Ampeln, die Essensstände braten und brutzeln, der Alltag scheint seinen normalen Weg zu gehen, die Anzahl der am Virus erkrankten Thais liegt derzeit bei 53 Personen, im 7Eleven ist es wie immer eisig kalt und wir checken ein. Vier Betten stehen im Zimmer, welches wir für uns haben, zwei Ventilatoren summen im Raum ihr Lied, eine eigene Dusche haben wir auch, gleichfalls eine winzige Terrasse. Nur wenige Gäste sind hier.

Wir ruhen uns aus, und machen uns dann zu Fuß auf eine kleine Tour durch die Stadt. Große Ziele haben wir nicht, die Tempel kennen wir, so treiben wir runter zum Fluss, und springen am Pier 13 auf ein Linienboot mit der orangenen Flagge, treiben vorbei am Wat Arun, vorbei am Königspalast und verlassen an einer der letzten Haltestellen das Boot, spazieren durch die kleine Markthalle nahe des Bahnhofes für die Skytrain, wandern durch das Viertel zwischen mächtigen Hochhäusern und handverlegten Stromkabelsträngen entlang. Hier und da wandert eine Kleinigkeit zu essen zu uns, Abends sitzen wir auf unserer kleinen Terrasse, trinken Chang Bier und blicken auf die golden beleuchteten Stahlstränge der Brücke Rama VIII. Boote tuckern ein paar Meter von uns entfernt vorüber, Wasserfahrzeuge jeglicher Art von kleinen Motorbooten bis hin zu den großen Partyschiffen, Musik schwappt an Land. Hallo Bangkok. Und während sich in Thailand die Nacht über uns legt, überschlagen sich in Deutschland die Ereignisse. Sollte am Morgen das Eintrachtspiel gegen Basel noch mit Publikum ausgetragen werden, so war am Abend klar, dass das Spiel unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden wird. Binnen kürzester Zeit werden Spiele und Veranstaltungen abgesagt, wird das öffentliche Leben in der Heimat lahm gelegt. Obwohl ich todmüde bin, kann ich nicht schlafen, blicke auf den Fluss, im Zimmer rauscht der Ventilator. Auch Pia ist jetzt wach. 9000 Kilometer weg von Zuhause.

Irgendwann schlafen wir ein. Und wachen in Bangkok auf. Checken Nachrichten und machen uns auf zum Frühstück, wieder im kleinen Restaurant auf der anderen Seite der Samsen Road. Hier ist es nett, ein paar Traveller sitzen um uns herum, Scooter knattern durch die kleinen Gässchen, liefern Obst und Gemüse ab, ein Ventilator läuft und wir bekommen einen Aschenbecher auf den Tisch gestellt. Im Gegensatz zu früher weisen jetzt viele Verbotsschilder Nichtraucherzonen aus. Anschließend räumen wir unser Zimmer, in ein paar Stunden wird uns der Bus nach Ranong bringen. Wir können unser Gepäck wieder deponieren, wandern dann zurück an den Fluss, nehmen das Boot zur Markthalle, haben die Qual der Wahl, was das Essen angeht, Pia ersteht noch einen Strohhut und zwei silberne Ringe und alsbald bringt uns das Schiff wieder zurück. Unterwegs beobachten wir die Uferszenerie, derweil ein älterer weißer Mann mit einem kleinen Thaijungen zusteigt. Schwer zu schätzen, wie alt der Junge ist, vielleicht 13? Ich blicke in seine leere Augen und kann mir vorstellen, was hier ungeniert vor sich geht. Und bin hilflos. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Der Junge blickt auf sein Handy, der weiße Mann fotografiert unter großen Bewegungen. Ich sollte ihn ins Wasser treten. Doch vielleicht ist alles ganz anders als ich denke – doch letztlich bin ich sicher: Das hier ist keine Harmlosigkeit. Das ist ein weißer Kinderficker. Vor der Zeit steigen wir aus. Ich fühle mich schlecht.

Kaum angekommen, verabschieden wir uns von Ben und seiner Unterkunft, schleppen die Rucksäcke in die Abfahrtshalle des Reiseveranstalters, trinken noch einen Kaffee und warten dann auf die Abfahrt des Busses. Erstmals tragen wir unsere Masken. Sicher ist sicher. Beinahe wird unser Gepäck nicht eingeladen, wir passen auf wie die Schießhunde. Letztlich landet es doch noch im Bus – und wir rollen los. Zunächst geht es zum Southern Terminal, noch im Hellen fahren wir los, eine gute halbe Stunde später ist es dunkel. Jetzt haben wir anderthalb Stunden Zeit, bis es weiter geht. Und zum ersten Mal entdecke ich den Nachtmarkt knapp hundert Meter neben dem Busbahnhof. Hunderte Stände, hundert Gerüche, hundert Farben. Ich schiebe ein paar Sachen in mich hinein und verliebe mich in die bunten Lämpchen, in das geschäftige Treiben. Die Zeit der Abfahrt nähert sich. Wir finden unsere endgültigen Plätze im Bus und rollen pünktlich um neun Uhr los. Verlassen Bangkok, verlassen das Gewusel, halten noch ein paar Mal, um Mitreisende einzusammeln oder Blumen zu besorgen und rollen nun durch die Nacht. Eigentlich ist es im Bus recht bequem. Du hast Beinfreiheit, kannst den Sitz nach hinten klappen – und doch ist so eine Nachtfahrt immer eine anstrengende Angelegenheit. Vor allem, da der Bus mitten in der Nacht auf halber Strecke an einem unwirtlichen Gasthof anhält. Zig Busse warten hier mit laufendem Motor, Stimmen organisieren über Lautsprecher das Geschehen, es gibt das wohl schlechteste Essen in ganz Thailand und wenn es weiter geht, bist du nachts um eins hellwach. Immerhin mit gewaschenen und desinfizierten Händen. Mit der Maske um den Mund rollen wir weiter in die Dunkelheit, spulen Kilometer um Kilometer ab. Den Stopp zur Kontrolle verschlafe ich – sagt Pia. Irgendwann muss ich dann doch eingepennt sein. Auf der Strecke kurz vor Ranong wache ich wieder auf. Jetzt spucken wir vereinzelte Fahrgäste wieder aus. Irgendwann haben wir dann doch noch unser Ziel erreicht. Wir und die Rucksäcke. Die nächste Etappe ist geschafft, wir sind gleichzeitig todmüde und hellwach. Glockenhellmüde sozusagen. Hallo Ranong.

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