War spät gestern, als ich erwache, hämmert es in meinem Kopf. Ich schrecke hoch. Wo bin ich? Ah, in meinem Zimmer in Charkiw. Und es hämmert gar nicht in meinem Kopf, es ist das Zimmermädchen, welches das Frühstück bringt. Unfröhlich drückt sie mir ein Tablett in die Hand. Zwei kleine gefüllte Teigtaschen, einen Joghurt, eine winzige Schokowaffel und einen Apfel- das ist besser als nichts. Ich setze Teewasser auf und springe in die Dusche, merke, dass die letzten Tage ihren Tribut fordern. Aber heute ist Matchday, die Eintracht spielt. Also raus in den Tag.

Blau der Himmel, Sonnenschein, es ist fast zu warm für meinen Mantel. Schwer hängen die Schuhe an meinen Füßen. Ich habe zur Not zwar noch ein paar Turnschuhe dabei, aber bei dem Eis und Schnee und Tauwasser könnte ich dann auch gleich Flip Flops anziehen. Ich laufe meinen nun fast schon alt bekannten Weg, vorbei an der Mariä Verkündungskirche, überquere den Lopan und treffe mich mit Freddy an den Panzern beim Constitution Square. Er hält einen Herzluftballon in den Händen – stimmt, heute ist ja Valentinstag. Huhu Pia. Unterwegs werden uns noch etliche dieser Luftballons begegnen. Gott sei Dank keine Panzer. Die Dichte an Eintrachtlern hat mittlerweile zugenommen, Basti ist gestern irgendwo versackt, Gerd heute mit Freunden unterwegs.

Da Freddy gestern erst spät in seiner Unterkunft gelandet ist und von der Stadtmitte noch nicht allzuviel gesehen hat, drehen wir eine Runde über die Sumska Street bis hoch zum viel fotografierten Eisspringbrunnen. Dahinter steht eine weitere prächtige orthodoxe Kirche, die von außen viel größer scheint als innen. Wir schauen sie uns kurz an und wandern dann runter zum Café Sweeter, einer der Jungs von gestern erkennt mich wieder. Online checke ich für meinen Flug von Kiew nach Frankfurt am Samstag ein, die Bordkarte wird in der Ukrainian International Airways App gespeichert, wie ich schon gestern für den Flug von Charkiw nach Kiew eingecheckt hatte. Beide Bordkarten sind nur mobil gespeichert, ich sollte das Handy wirklich nicht verlieren. In dem kleinen Café ist es gemütlich warm, wir reden über unsere Erlebnisse und über das bevorstehende Spiel, über Gott, die Welt und über die Tatsache, wahrhaftig jetzt hier zu sein. Beide werden wir morgen wieder in Kiew landen- doch heute steht noch ein ganzer Tag in Charkiw an – keine 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die Eintracht spielt im Metalist-Stadium gegen Shakhtar Donezk. Soldaten sind allgegenwärtig, aber nicht überpräsent – Donezk selbst liegt im Kriegsgebiet. Wir aber sitzen bei Sonnenschein in einem Café, draußen ziehen Eintrachtler vorbei und haben Glück, dass wir nicht selbst in den Krieg ziehen müssen.

Unsere Runde führt uns anschließend wieder zur Markthalle, diesmal hat sie geöffnet. Linker Hand wird Granatapfelsaft feilgeboten, die Granatäpfel liegen lockend vor uns und die Gedanken, einen zu probieren, werden unmittelbar gehört. Schon halten wir einen Probierschluck in den Händen und ordern prompt zwei Flaschen – ohne nach dem Preis zu fragen. Fehler. Ich merke es sofort, denn anschließend werden uns lachend pro Flasche 100 Gwirna aus dem Beutel gezogen, ein Schnäppchen zwar im Vergleich zur vermeintlichen Touristenabgabe im Hotel – aber für hiesige Verhältnisse ein satter Preis. Ich meine, drei Euro bringen dich nicht um – mich fuchst aber, dass die falschen an die Kohle kommen. Die braven, ehrlichen, die gucken immer blöd aus der Wäsche. Aber was sollen wir uns lange grämen und so schlendern wir durch die Markthalle und bestaunen das Angebot, Fleisch und Speck, Wurst und Käse sowie schwarze Butter, kiloweise. Und natürlich Granatapfelsaft.

Unser Mittagessen nehmen wir wieder in der Marktgaststätte ein, diesmal bin ich ja schon ein alter Hase, die Wirtin begrüßt mich wie einen alten Bekannten, zumindest erkennt sie mich und schaut nicht mehr ganz so irritiert wie gestern, ich greife routiniert nach der Menükarte – nur Schaschlik ist leider wieder aus. Aber Kebab ist verfügbar, auch Brot und Paprikasoße und natürlich Bier. Wir verbringen eine ganze Weile hier, betrachten das überschaubare Treiben und schaffen es nicht, unsere Teller ganz leer zu essen. Der Abschied ist freundlich und final, ich bin ganz schön groggy und wir machen uns auf die Socken. Da wir wieder an der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale landen, entscheiden wir uns für einen Blick ins Innere – und was soll ich sagen? Es ist unglaublich. Einerseits wird an allen Ecken und Enden gewerkelt, die goldenen Beschläge werden von einer dick vermummten Frau gewienert, ein Deckenmaler bessert ein Fresko aus, ein anderer trägt Kopfhörer und feine Pinsel und bemalt eine Wand. Ein nächster Mann schneidet in Seelenruhe Papier in Streifen, ein weiterer schraubt an einem Gerüst. Wie viele Menschen haben hier wohl schon gearbeitet in all den Jahren? Wer waren sie? Sonnenlicht fällt schräg durch gläserne Fenster, beleuchtet im Strahl eine Art Altar, in der Kirche selbst findet sich ein Sammelsurium an Bildern, Gold, Kerzen oder Ikonen – es bräuchte Jahre, alles zu beschreiben, jede einzelne der Geschichten zu erzählen, die sich hinter all den Utensilien verbergen. Soviel Zeit haben wir jedoch nicht. Anschließend trennen sich unsere Wege für’s Erste. Freddy geht zurück in die Stadt, ich wandere retour in die Unterkunft, ich bin ziemlich müde – und der Tag wird noch lang werden. Lang und kalt, ich sag’s euch.

Eine meine größten Sorgen in jenen Momenten war die Frage, wie ich morgen früh zum Flughafen kommen werde. Die Option, die Metro und anschließend den Bus zu nehmen, erscheint mir etwas wackelig, ich weiß nicht genau, wo die Busse abfahren und wie lange der Weg zum Airport wirklich dauert. Das höchste der Gefühle dürfte vielleicht eine Stunde sein, dazu sollte aber alles klappen. Taxi ist ja immer so eine Sache. Manchmal geht es gut, der Fahrer ist nett, der Fahrstil zivil und der Preis fair. Manchmal aber ist es auch die Hölle. ich plane hin und her und denke mir letztlich: Was soll’s, wird schon irgendwie klappen. Hat ja noch alles immer irgendwie geklappt. Ich haue mich auf’s Bett, bereite mir einen Tee, verschicke ein paar Nachrichten und ruhe mich aus.

So langsam ist dann der Zeitpunkt gekommen, mich ausgehfertig für das heutige Spiel zu machen – und verzichte ob der relativen Wärme auf lange Unterhosen, die ich extra für die Fahrt noch gekauft habe – und von denen ich eigentlich kein Freund bin. Auch die Handschuhe lasse ich zuhause, zu umständlich scheint mir das ständige rein und raus beim Rauchen oder Fotografieren. Immerhin, eine neutrale Mütze habe ich dabei, auch mein Mantel hat sich bewährt  – und so landet alles Wichtige in meinen Taschen. Zuerst das Ticket, dann Geld, Pass, und alles was so an Basics dazugehört. Das Handy ist aufgeladen, die Kamera auch – es kann losgehen. Forza SGE. Und kaum habe ich die Tür zugezogen, fällt mir auf, dass ich mein Tuch noch um den Hals trage- da gehört aber heute der Eintrachtschal hin. Also nochmal ins Zimmer, den „Lazio Merda Schal“ um den Hals gewickelt, den ich hier erstmals aus der Folie gepackt habe und auf geht’s. In Rom hatte ich den Schal gar nicht im Stadion dabei, die Sache war mir dort zu riskant und auch ein bisschen zu doof, hier aber passt er für mich hin. Ich binde ihn so, dass er zunächst nicht sonderlich auffällt. Es sind nicht nur freundlich Gesinnte hier, von daher ist Vorsicht nicht der schlechteste Ratgeber.

Und kaum bin ich in dem kleinen Park hinter dem Fluss, begegnet mir eine kleine Gruppe, die schwer nach Fußballfans aussieht, sie beäugen mich kritisch, ich tue so, als sei ich hier geboren und würdige sie keines Blickes – und atme auf, als ich merke, dass sie mich in Ruhe lassen. Oben auf dem Constitution Square, wo der Marsch zum Stadion beginnen soll, ist schon einiges los, etliche Busse parken jetzt hier, es sind die Shuttlebusse der Tagesflieger, die peu a peu gelandet sind und natürlich überall ein Gudewie. Ich treffe auf die Gang des Podcast, die ein paar Schritte neben mir gefilmt werden – und Kristian, der mit uns in Zypern war, gibt mir den Tipp, bezüglich des morgigen Weges zum Flughafen es doch einmal mit Uber zu probieren, dies hätte bei ihm die Tage tadellos funktioniert. Ich bin dankbar, eine Option mehr, das kann nie schaden.

Da noch über eine Stunde Zeit ist, besorge ich mir eine Schachtel Zigaretten und begebe mich auf den Weg hoch zum Eisbrunnen. kaum bin ich ein paar Meter gegangen, kommt mir ein kleiner Trupp entgegen, der alle Eintrachtler darauf hinweist, wieder runter zum Platz zu gehen, weiter oben würde es allen Ecken und Enden scheppern. Das wäre mir eigentlich egal, ich sehe nicht aus, wie ein typischer Fußballfan – aber ich will auch kein Risiko eingehen, so ganz alleine, deshalb kehre ich wieder um und laufe erneut nach unten zum Platz, der sich mehr und mehr füllt. Einige Polizisten bewachen das ganze eher unaufgeregt und natürlich treffe ich auf jede Menge Leute, viele mit einem Schöppchen in der Hand – doch nicht jeder. Geschichten machen die Runde, dass einzelne Leute sowohl bei Alkoholgenuss aber auch beim Wegschnippen von Kippen und beim Wildpinkeln ordentlich zur Kasse gebeten worden sind. Zwar wurde es durch den Wegfall eines offiziellen Protokolls etwas günstiger – aber ich drücke meine Kröten dann doch lieber netten Menschen in die Hand. Außerdem ist es mir für Bier eh zu kalt, abgesehen davon, dass ich sowieso vorhabe den Abend stocknüchtern zu verbringen. Auf der einen Seite weiß man nie, wozu man seine sieben Sinne noch brauchen wird, auf der anderen Seite habe ich im Zweifel auch niemand, der mich morgen früh weckt – und ich muss aufstehen, mein Flieger geht, den sollte ich nicht verpassen.

Unterwegs treffe ich wieder auf Freddy – und wir werden den Abend auch im Stadion zusammen verbringen, zudem wir ja die Tickets gemeinsam über das Museum bekommen haben und im gleichen Block sind. Zu zweit kann es ja auch um einiges lustiger sein, wobei ich nicht sagen will, dass nur Fremde um mich herum sind – ganz im Gegenteil. Mittlerweile hat sich die Dunkelheit über uns gelegt und damit einhergehend, beginnt die Kälte zu kriechen und ich wiederum beginne daran zu zweifeln, ob es eine gute Idee gewesen ist, die lange Unterhose im Hotel zu lassen. Da wir laut Plan in einer knappen halben Stunde losmarschieren werden, wäre jetzt ohnehin die Zeit zu knapp, diese noch zu holen. Dass wir dann erst um 19 Uhr loslaufen sollten, wusste ich ja noch nicht. Wir beschließen, um die Ecke noch einen Tee zu trinken und landen in einem türkischen Restaurant – es hätte so auch in Frankfurt sein können. So wärmen wir uns bei heißen Schlucken auf – und sind natürlich nicht die einzigen Frankfurter im Laden, dessen Toilette zudem ein Segen für so manchen ist. Nebenbei lade ich mir noch die Uber-App auf’s Handy, man weiß ja nie. Und dann heißt es wirklich raus in die Kälte, gleich beginnt der Marsch – und irgendwann werden wir im Stadion stehen, das Flutlicht wird gleißen und die glorreiche SGE wird spielen – und deswegen sind wir hier.

Kaum hat sich der nahezu komplett schwarze Tross in Bewegung gesetzt, bleiben wir auch schon wieder stehen. Vermutlich zeigt die Ampel noch rot – und so sollten die ersten Meter sich ziehen. Unten, am Ende der Sumska Street, leuchtet das „Empire State Building“, wie ich es nenne, wieder in wechselnden Farben, dort biegen wir gemächlich nach links ab. Der Marsch wird gesäumt von hiesiger Polizei, die uns aber weitgehend in Ruhe lässt. Einzelne Schlachtrufe werden skandiert und halb Charkiw ist auf den Beinen, um diese seltsamen schwarzgewandteten Gestalten zu filmen. Einige recken den Daumen in die Höhe, andere hängen an den Fenstern, um das seltene Spektakel im Warmen zu verfolgen. Auch die Läden haben kurzzeitig geschlossen, die Mitarbeiter stehen auf der Straße und verfolgen uns mit offenen Mündern, derweil sich die Prozession Meter um Meter vorschiebt.

Je weiter wir uns vom Zentrum entfernen, um so dunkler wird es, um so sozialistischer wird es – und wir sehen ein Charkiw, wie es sich wohl sonst für die meisten hier tagtäglich anfühlt. Gigantische Häuserreihen getrennt von breiten Straßen, beherbergen die 1,5 Millionen Einwohner, schwarzweiße Eisschneemassen trennen den Gehweg von der Fahrbahn. An jeder freien Ecke scheren Heerscharen aus, um zu pinkeln, jedes einzelne erkennbare Kiosk wird sofort geentert, um für Nachschub zu sorgen – manch einer braucht vom Platz zum Stadion die doppelte Anzahl an Schritten und nutzt die komplette Breite des Weges aus. Auf der Straße ist es eng, auf dem Gehweg eisig, es ist kein einfaches Vorankommen, aber wir kommen voran. Vorbei an einer Kneipe mit dem Namen Beerlin und auch vorbei am Liverpool Pub. Nach über einer Stunde leuchtet ein wunderbar beleuchtetes Gebäude in die Dunkelheit und erst dahinter lässt sich das Stadion erahnen. Freddy versucht, am Rande sich zu erleichtern, wird aber als einziger wieder von den Herren Polizisten verscheucht, später werden wir auch vom Bürgersteig wieder in den Pulk geschickt, wiederum als einzige – aber Fragen nach dem „Warum“ stellt man sich als Fußballfan ja sowieso selten – die Antworten, so vorhanden, wären eh ernüchtert.

Endlich leuchten die blauen Metallmasten des Stadions im Flutlichtnebel auf, noch wenige Meter, und wir sind da, wir haben es geschafft. Erste Schals werden angeboten, Souvenirs dazu – aber ich habe sowieso genug Krempel, von daher verzichte ich auf neues Material, Freddy besorgt sich jedoch einen Schal – und wird ihn später seiner Gastgeberin schenken. Unterwegs treffen wir Anjo, einen Fanveteran, der schon 1993 in der Ukraine gewesen ist, als die Eintracht in Dnipropetrowsk kickte und handgezählte 22 Fans den Club im Mannschaftsflieger begleitet haben. Er war der erste Fansprecher der Eintracht – und kennt Geschichten aus einer Zeit, in der viele der heute Mitgereisten noch in den Windeln lagen, wenn überhaupt. Wir passieren eine Polizeikette, da wir unzweifelhaft als Frankfurter zu erkennen sind und wandern zu den Gästeeingängen. Übertrieben voll ist es an unserem Einlass nicht, wir warten dennoch draußen, wo Hotdogs und Bier verkauft werden. Ich überlege noch, an der Metrostation ein Ticket zu ziehen, um später im Zweifel nicht Schlange stehen zu müssen, lasse es aber bleiben.

Mittlerweile ist es 21 Uhr Ortszeit geworden, noch eine Stunde bis Anpfiff und wir stellen uns an. Drei Kontrollen später sind wir drin, alle drei Kontrollen liegen jedoch unmittelbar hintereinander, so dass auch dies nur wenig Zeit in Anspruch nimmt. Gedränge gibt es nur bei der vierten Kontrolle, direkt vor dem Block. Aber auch das bringen wir mit einigem Geschiebe hinter uns, so erklimmen wir die Stufen des Block 30 und spazieren nach oben. Die Ultras sind im Block nebenan, fahnenfreie Sicht ist garantiert und da wir Bernd und Gisela mit Ellen und Ina erkennen, stellen wir uns unter großem Hallo hinter sie. Unser Block ist nicht ganz gefüllt, je weiter es nach oben geht, um so mehr freie Plätze wird es geben, dies kommt mir zu pass. Brüllend laute Technomukke beschallt uns, Boom Boom Shakhtar, man beginnt ob der Kälte mit zu wippen – und dann erkenne ich ihn drüben in der leeren Kurve. Den DJ. Alleine hinter seinem buntbeleuchtetem Pult gibt er alles. Shakhtar Boom Boom. Auf der Haupttribüne, dort wo die Logen und feinen Plätze sind, versucht der EFC Black & White sein Banner aufzuhängen – es bleibt dort aber nicht lange. Das Stadion ist bei Weitem nicht ausverkauft, es gibt tausende freie Plätze. Aber klar, wir sind hier in Charkiw und nicht in Donezk, auch für die orangenen ist es quasi ein Auswärtsspiel. Und dann rasselt es urplötzlich neben mir, ich drehe mich um und von oben kommt mir ein Eintrachtler entgegen geflogen, knallt Reihe um Reihe nach unten, bis er auf Ellen und Ina ballert und zwischen ihren Beinen und der Betonwand zur nächsten Reihe eingekeilt liegen bleibt. Ellen ist in Ordnung, aber Ina läuft das Blut von der Stirn, Tempo um Tempo füllt sich, ein Sanitäter ist nötig, derweil der Kamerad sich gestikulierend entschuldigt, nachdem er sich halbwegs berappelt hat. Bernd ist unterwegs, um Hilfe zu holen – findet aber keine erste Hilfe, sondern bloß einige Ordner, die sich halbwegs Mühe geben. Es dauert viel zu lange, bis jemand vor Ort ist, der Ina zielgerichtet zumindest halbwegs betreut. Mit einem dicken Pflaster über der Stirn kommt sie nach einer Weile wieder. Immerhin, sie kann das Spiel sehen. Die nächsten Tage aber sollten unerfreulich werden. Also, falls der gefallene Patient dies liest oder einer seiner Leute, meldet euch bei mir – du hast was gut zu machen. Aber gewaltig.

Die Mannschaften beginnen unterdessen, sich aufzuwärmen. Hinter den Toren liegen Massen an Schnee, der hier auch die nächsten Monate nicht schmelzen wird und der Stadionsprecher verkündet die Mannschaftsaufstellungen – auch auf deutsch. Sie scheinen extra einen Spezialisten bestellt zu haben, die Übersetzungen klingen wie aus dem Lehrbuch. Er wird später sagen: Der Hauptschiedsrichter hat eine Nachspielzeit von vier Minuten angeordnet – in einer Betonung, die so dermaßen sachlich und richtig ist, dass ich mich vor Respekt verneige.

Und nach einer Schweigeminute für den mit dem Flugzeug tödlich verunglückten Emiliano Sala geht es los, die Eintracht ganz in weiß nur ohne Blumenstrauß, wir supporten gegen die Kälte an. Und wie es los geht, kaum hat der Hauptschiedsrichter angepfiffen, zappelt die Kugel im Netz. Hinteregger war’s gewesen, die Eintracht führt. Und dann geht es Schlag auf Schlag. Gelbe Karte für die Nummer sechs, Stepanenko, Donezk. Elfmeter für Donezk. Ausgleich. Gelbrote Karte für die Nummer sechs, Stepanenko, Donezk – noch keine 10 Minuten waren gespielt. Das kann ja was werden. Es geht hin und her, die Eintracht erspielte sich Chancen, derweil ersichtlich wird, dass Donezk durchaus eine sehr gute Mannschaft hat, der Vorteil, auswärts gegen 10 zu spielen, ist ein wirklicher Joker. Der Stadion DJ hat sich übrigens ins Warme begeben, ich befürchte, er wird zur Halbzeitpause aber wieder arbeiten. So kommt es dann auch. Ich habe mittlerweile Ingo mit einem Hotdog entdeckt und gleichermaßen Hunger. So marschiere ich in der Pause bei brüllendem Techno die Stufen nach unten, um mir einen warmen Hotdog zu besorgen. Aber es gibt nur Bier und kaltes Gebäck, etwas Warmes sollte es aber schon sein – so trabe ich wieder in den Block. Und dann wickel ich meinen Schal vom Hals und recke in minutenlang in die Höhe. Auf diesen Moment habe ich gewartet, seit ich die Reise gebucht hatte. Lazio Merda mitten in der eisigen Charkiwer Nacht. Eine Minute lang weist auch „Magische SGE“ nach vorne. Dann ist mir kalt und ich wickel den Schal wieder UM den Hals.

Als ich Ingo wieder entdecke, frage ich ihn nach dem Ort des Erwerbs des Hotdogs – und er verweist mich an einen fliegenden Händler, 60 Griwna koste das Teil – er (der Händler) habe aber kein Wechselgeld mehr und hätte ihm (Ingo) 40 einzelne Griwna in die Hand gedrückt – die mir Ingo jetzt selbst übergibt, da er diese ob des nächtlichen Heimfluges nicht mehr brauchen wird. Mit diesem Bündel Geld in der Hand halte ich Ausschau bis mich Freddy anschubst: Da ist er. Und tatsächlich, ich laufe runter und werde Zeuge der gallopierenden ukrainischen Inflation: Der Hotdog kostet jetzt 100 Gwirna. Ich drücke dem Verkäufer schon mal die 40 in die Hand, wobei er auf seinen 100 besteht. Ich habe es ja akzeptiert, will eigentlich aus meinem Geldbeutel die restlichen 60 holen. Er meint hundred, ich sage 40 hast du ja schon, er sagt hundred und so weiter. Erst als ich ihm weitere 60 endlich geben kann, da ich mein Portemonnaie rausgefischt hatte, versteht er. Und drückt auf die Tube. Ketchup. Senf. Während ich so warte, nutzt Kostic die Gelegenheit und bringt die Eintracht in Führung. Großer Jubel allenthalben. Ich konnte zwar nichts sehen, halte jetzt jedoch meinen Hotdog in den Händen – damit kann ich leben und husche zurück auf meinen Platz.

Das Spiel wogt jetzt munter hin und her, ab und zu hört man den Support der Shakhtar Anhänger, eine Art Pfeifen. Von unserer Seite kommt etwas ähnliches wie Dawei, dawei, huh – wobei ich mich frage, woher alle wissen, was gerufen wird. Ich bin ja der slawischen Sprachen nicht so mächtig. Also bin ich ruhig. Vielleicht heißt es aber auch Dawei, dawei, bud. Also sowas wie Tschüss. Dies lassen die in orange-schwarz spielenden Donezker jedoch nicht auf sich sitzen und erzielen trotz etlicher Chancen der Eintracht das finale Tor zum 2:2 Ausgleich. Das ist insofern betrüblich, da die Chance gegen 10 auf Sieg zu spielen hier nicht wieder kommen wird. Aber was soll’s, das Rückspiel wird es zeigen. Das Spiel neigt sich dem Ende zu, einige von uns verfolgen die Partie bei gepflegten Minustemperaturen nun mit freiem Oberkörper, mir zieht die Kälte in die Knochen und drüben bei Shakhtar brennen ein paar Lichtlein in der Kurve. Jetzt sind 90 Minuten rum, aber: Der Hauptschiedsrichter hat eine Nachspielzeit von vier Minuten angeordnet. Aber auch hier passiert nichts Entscheidendes, es bleibt beim 2:2. Vor dem Spiel hätte ich es genommen, zwei Auswärtstore und nicht verloren. Aber jetzt wurmt es mich, doch ich kann es auch nicht mehr ändern, die Chancen auf einen Sieg waren da – und sie wurden vergeben. Die Mannschaft wird noch ein bisschen gefeiert und verschwindet dann in der Wärme der Katakomben. Ich bin neidisch. Freddies Akku ist mittlerweile leer. Dabei muss er noch seinem Taxifahrer verklickern, wo er hin muss – ihr erinnert euch: In den Osten Charkiws. Wahrscheinlich als einziger.

Unmittelbar nach Schlusspfiff werden die Tore abgebaut, während der Stadion DJ weiterhin sein Bestes gibt. Wie bekannt, dürfen wir nicht sofort das Stadion verlassen, nach einer guten halben Stunde, der Rasen ist nunmehr zur Hälfte schon abgedeckt, kommt die Durchsage, dass wir uns noch 15 Minuten gedulden sollen, dann werden die Tore geöffnet, dann werden die Shuttlebusse wie auch die Metro fahren. Das klingt akzeptabel und ich hoffe, dass die Metrofahrt im Ticket mit drin ist, wenn sich ein paar hundert Leute am Automaten anstellen, kommst du vor morgen nicht heim. Aber so sollte es nicht kommen, es kam ganz anders.

Wie versprochen, können wir nach weiteren 15, 20 Minuten den Block verlassen. Einige hasten zu ihren Bussen, andere suchen ihre Busse, Freddy hält Ausschau nach einem Taxi und ich will in die Metro Station. Aber zunächst geht draußen gar nichts. Polizei hat den Platz abgesperrt. Erst nach einer Weile löst sich das Ganze, Taxis aber sind rar wie Speisekarten auf Englisch, derweil die Metrostation weiterhin abgesperrt bleibt. Und dann sickert so langsam durch, dass die Metro auch heute nicht mehr fährt. Etliche Leute setzen sich in Bewegung, wandern vom Stadion runter an einen größeren, beleuchteten Platz, unterwegs habe ich Michaela und Roland getroffen, deren Hotel nicht weit weg von dem meinigen ist, wir laufen mit Freddy zusammen, versuchen ein Taxi zu erhaschen. Das klappt aber nicht wirklich, die Fahrer verstehen nicht so ganz, was wir wollen, dennoch sehen wir zu, dass vor allem Freddy einen Lift bekommt, da er ja alleine an den Arsch der Welt muss. Der versammelte Rest muss ja irgendwie in die gleiche Richtung. Und dann geht auf dem gesamten Platz, wo überall Leute Ausschau nach einem Weiterkommen halten, das Licht aus. Zack ist es dunkel. Richtig dunkel. Häuserschluchten in der Dunkelheit bei -6°. Europapokal. Aber Freddy hat Glück, er erwischt einen Wagen und rollt Richtung Heimat, der Fahrer hat ihn verstanden – und wir sehen, dass sich ein Pulk von ein paar Hundert Leuten zu Fuß in die Stadt aufmacht. Wir schließen uns an, der Pulk zieht sich, einzelne erwischen ein Taxi, der Rest marschiert durch Häuserschluchten in der Finsternis, unbegleitet von Polizei – unter Sicherheitsaspekten ein Elend. Erst bin ich sauer, will nur noch in’s Warme – doch dann ist es geil. 2500 Kilometer weg von zuhause, nachts um halb zwei laufe ich durch die eiskalte, schwarzdunkle Nacht, umgeben von Plattenbauten, durch Charkiw. Das ist nahezu surreal. Eintracht Frankfurt international.

Alsbald erkenne ich in der großen Straße, den Weg, der uns in einiger Entfernung zum Fluss bringen wird. Das Gröbste wäre geschafft. Michaela, Roland und ich sind mittlerweile fast alleine unterwegs, der Rest hat sich verstreut, wir aber laufen, kommen an den Lopan, sehen die Mariä-Verkündigungs-Kathedrale und alsbald trennen sich unsere Wege. Ich muss nach rechts und denke, in fünf Minuten am Hotel zu sein, die beiden haben noch 15 Minuten geradeaus. Kurz vor dem Hotel begegne ich noch einigen dunklen Gestalten, ich zucke kurz, aber es sind Frankfurter, wenn auch ein wenig lädiert. Sie sind wortkarg, wohnen aber im gleichen Hotel und so schleppen wir uns die Stufen hinauf, die Jungs drehen links ab, ich rechts. Punkt zwei Uhr bin ich wieder zuhause. Durch die nächtliche Lauferei ist mir sogar halbwegs warm geworden. Ich setze noch einmal Teewasser auf und falle anschließend ins Bett, schaue noch einmal nach den gestellten Weckern und schlafe wortlos ein. Noch weiß ich nicht, wie ich morgen zum Airport kommen werde – aber auch das wird schon klappen. Eintracht Frankfurt international.

Und hier findet ihr die anderen Teile des Reiseberichts

Teil I

Teil II

Teil IV