Je älter du wirst, umso mehr wirst du mit Spuren der Vergangenheit konfrontiert – ob du willst, oder nicht. Natürlich auch am Reformationstag, alle deutsche Welt spricht von Martin Luther, dem Reformator, der für die Christen wohl eine große Bedeutung hatte, für die Bauern und Juden hingegen nicht. Beziehungsweise keine gute.

Von Thomas Müntzer dagegen spricht niemand mehr, von dem Mann, dessen Bestreben gleichwohl einer gerechteren Gesellschaft diente, ermordet im Mai 1525 nach dem Bauerngemetzel in Frankenhausen. So ist das in diesem Leben, gib den Mächtigen die Hand – und dir wird gegeben. Übrig blieb im Oktober 2017 ein Feiertag im Herbst.

Lange wohnte ich in Frankfurt Oberrad, der Gang in den Stadtwald dauerte nur wenige Minuten. Im Schneewinter starrte ein Fuchs auf weißen Wegen verharrend in das Nachtlicht, an warmen Tagen badete nie jemand im Maunzenweiher. Wenn ich nicht wusste, wohin, ging oder radelte ich in den Wald. Scheerwaldschneise, Kesselbruchschneise, Beckerweg, Goetheturm. Manchmal war ich dort alleine, nur die Flugzeuge röhrten über mich hinweg und störten die romantische Waldeinsamkeit aufs Gröbste. Ich kannte die Lichtung, wo ich Damwild sehen kann, wie ich überhaupt die Wege kannte – bis hinter zum Stadion oder der Oberschweinstiege.

Heute muss ich zum Wald fahren, wir parken am Felsenkeller und laufen Richtung Goetheturm – oder das, was von ihm übrig blieb. Brandstifter hatten ihn abgefackelt, den Turm, der all die Jahre so selbstverständlich über Frankfurt wachte. Der Teufel soll ihn holen, den Feuerteufel. Und natürlich weckt der Goetheturm Erinnerungen. An die Kindheit und einen Bekannten, der hier seinem Leben ein Ende gesetzt hatte, mit Blick über die Stadt, die späteren Nachtspaziergänge, den Kuss. Wenn du dich dem tobenden Frankfurt entziehen wolltest, ging’s hoch zum Parkplatz am Goetheturm. Unten pulsierte der Verkehr, hier hatte man seine Ruhe. Manchmal standen wir auf dem Parkplatz und rauchten. Die Polizei klopfte, aus dem geöffneten Fenster quoll der Rauch. „Haben sie etwas getrunken? Nein. Alles klar.“ Der Goetheturm stand wie ein Fels in der Brandung, auch wenn alles um dich herum der Vergänglichkeit anheim fiel, der Goetheturm hatte Bestand. Heimat, im unschuldigen Sinne des Wortes. Vielleicht gibt es nur noch die Frankfurter Eintracht, die ähnliches verkörpert, verknüpfte Lebenserinnerungen von Jahrzehnten eingewoben in ein Etwas, das im Wandel beständig bleibt – und dadurch selbst Halt gibt.

Wir sind nicht die Einzigen, die wehmütig vor den abgesperrten Brandresten stehen. Im Café nebenan ist reger Betrieb. Jemand hat einen kleinen Goetheturm gebastelt und ihn mit Kabelbindern am Zaun festgemacht, ein Plastikhündchen schaut uns von dort an. Wahrscheinlich wird es bald geklaut. So wie einst in meiner Straße in Oberrad ein Haus abgebrannt ist, zwei Menschen kamen ums Leben, Italiener. Zum Gedächtnis legten Freunde und Bekannte Devotionalien vor das Grundstück, darunter ein Trikot der italienischen Nationalmannschaft. Wenige Tage später kündete ein Zettel am Tor von dessen Diebstahl.

Am Zaun der Brandstelle des Goetheturms hängen Rosen. Ein paar Schritte daneben grinst Martin Schulz von einem Wahlplakat in den Bäumen.

Über den Wendelsweg laufen wir vorbei an Gärten bis zur Baustelle, jetzt geht es rüber zum Hainer Weg. Spermüll liegt auf den Wegen. Schon von weitem ragt der neue Wohnblock in die Höhe, der anstelle des Henninger Turms gebaut wurde und in seiner Form an diesen gemahnt. Aus dem Radrennen „Rund um den Henninger Turm“ wurde „Rund um den Finanzplatz Frankfurt Eschborn„. Und damit ist auch alles gesagt. Neben dem neuen Henninger Turm ziehen sich neue Wohnanlagen, weiter unten noch die große Baustelle. Investorenprojekte der gehobenen Klasse. Gebaut, von schlechtbezahlten Arbeitern, die niemals hier wohnen werden. Deren Frauen ebenso schlecht bezahlt die Räume putzen oder für kleines Geld die Haare schneiden dürfen. Kein Wunder, dass sie Thomas Müntzer vergessen haben. Am Endes des Hainer Wegs parkt ein Geländewagen. Über dem Nummernschild prangt ein Text: Mein anderes Spielzeug hat Titten.

Auf dem Rückweg über Sachsenhausen passieren wir das Willemer-Häuschen, an Goethe kommst du hier nicht vorbei, weiter unten ist ein gehobenes Bordell. Zwischen Häuschen und Henninger Turm spielte eine neuere Episode der Stadtgeschichte. Die von Bruno Schubert, der nach dem II. Weltkrieg Henninger erwarb – und 1980 wieder veräußerte. Als Schubert 2010 starb, sollte seine blutjunge Witwe das Vermögen erben, der Boulevard überschlug sich. Zu seinem Besitz gehörte auch die denkmalgeschützte Villa am Wendelsweg. Nachdem der letzte Besitzer von Henninger, Dietmar Hopp, die Markenrechte verhökert hatte, ging es an den Umbau des gesamten Geländes – es entstand obiges Wohngelände der gehobenen Klasse. Und die Stadt Frankfurt pfiff zugunsten der Investoren auf den Denkmalschutz.

Zurück am Stadtwald in Oberrad künden Töne schon von Weitem vom Zug der Kraniche, Hunderte, vielleicht Tausende, ziehen über uns hinweg, ein faszinierendes Schauspiel. Ein landendes Flugzeug in niedriger Höhe scheucht die Vögel auf, sie verlieren ihre Position, müssen sich neu sortieren, es dauert eine Weile, bis sie sich gefunden haben. Dann ziehen sie weiter, in den Süden. Wir aber bleiben hier, in dieser Stadt mit ihrem Wandel. Mit Investorengruppen und einer Politik, die dies fördert und uns als positives Wachstum verkauft. Abgeschöpft wird der Rahm von Wenigen, der Rest balgt sich um die Brosamen und weiß nicht wohin. Thomas Müntzer kannte dies, wollte es ändern – und bezahlte mit dem Tod.