Im Prinzip war klar, dass nach dem Stühlerücken in Guimaraes das Auswärtsspiel der Eintracht bei Standard Lüttich offiziell ohne Eintrachtfans stattfinden wird. Diese, also wir, standen unter Bewährung und die UEFA hält Kollektivstrafen für eine gute Idee. Und so kam es dann ja auch. Schon bevor die Strafe verkündet wurde, hatte ich beschlossen, das Spiel in Lüttich sausen zu lassen. Auch als Hannover 96 seinerzeit dort spielte, gab es für die Fans massive Einschränkungen – und wenn ich etwas nicht mag, dann sind es, genau, massive Einschränkungen. Aber wieder einmal kam alles ganz anders.

Neben der Auswärtssperre in Lüttich handelten sich die Anhänger der Eintracht auch eine Sperre für London ein, ob diese Bestand haben wird, zeigt sich am 13. November 2019. Dann wird über den Einspruch der Eintracht verhandelt. Kurz vor dem Spiel in Lüttich meldete die Eintracht: „Die Stadt Lüttich hat Eintracht Frankfurt über das Polizeipräsidium Frankfurt eine Verbotsverfügung zukommen lassen. Demnach ist es Eintrachtfans ab sofort untersagt, sich im Stadtgebiet Lüttich aufzuhalten.“

Als diese Meldung durchdrang, reizte es mich dann doch, genau deshalb dort hin zu fahren, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Eigentlich hatte ich einen anderen Termin und überhaupt, wie und mit wem bekomme ich dies in der kurzen Zeit gebacken. Letztlich erschien es mir schlicht zu stressig. Bis Mittwochs mein Telefon klingelte: „Beve, kommst du mit nach Lüttich, wir haben ein kleines Kartenkontingent, hochoffiziell …“ tönte es aus der Leitung. Wer mich anrief und wer letztlich mitfuhr, tut hier nichts zur Sache, binnen Kurzem hatte ich meinen Termin verschoben und sagte für die Fahrt zu. Pia musste leider arbeiten, blieb also zu Hause – und ich konnte es kaum glauben, dass mir das Schicksal doch noch eine Karte zugespielt hatte. Lüttich also. Der Europatrip geht weiter. Für die Eintracht. Und für uns.

Donnerstag morgen gegen 11 Uhr trafen wir uns am Museum, wir hatten kurzfristig einen 9er Bus gemietet – und wir waren genau 9 Leute. Pünktlich wie die Maurer rollten wir standesgemäß vom Stadion auf die A3 Richtung Köln. Unser Ziel war das Mannschaftshotel der Eintracht in Chaudfontaine, dort lagerten unsere Karten, ein paar Kilometer von Lüttich entfernt. Also auf jetzt!

Je länger wir auf der Autobahn rollen, desto aufgeregter wurden wir ob des bevorstehenden Abenteuers, immerhin waren wir noch nicht im Besitz der Karten, die uns die rechtmäßige Einfahrt nach Lüttich gestatteten. Aus der Lütticher WhatsApp-Gruppe trudeln vereinzelte Nachrichten ein, der ein oder andere hatte es schon nach Belgien geschafft, bislang schien alles glatt zu gehen. Kurz hinter Köln geht unserem Fahrer erst einmal die Puste aus, in Frechen übernehme ich das Steuer und steuere mit dem gepflegten Diesel Automatik Mercedes auf die A4. Nach ein paar Metern habe ich mich an die Größe des Wagens gewöhnt, vom Fahrkomfort kein Unterschied zu einem PKW. Gemütlich rollen wir über die Autobahn, machen an neuralgischen Punkten langsam, passieren eine lange Reihe von Bäumen des Jahres, die an den Autobahnrand gepflanzt sind – bis ich ein Weilchen mit ordnungsgemäßem Abstand hinter einem schwarzen Kombi her fahre. Und während ich mich wundere, weshalb er auf der Mittelspur fahrend das rechte Fahrzeug nicht überholt, beginnt die Heckscheibe zu blinken: Polizei. Folgen. Es ist eindeutig, er meint uns, eine Flucht ist sinnlos. Also fahre ich ihm hinterher. Er lotst uns bei Eschweiler von der A4 runter bis hin zu einem kleinen Industriegebiet, dort befindet sich eine Außenstelle der Bundespolizei. Jede Menge der Kameraden in Uniform umrunden uns, ein anderer Wagen wird kontrolliert. Fenster runter. „Wo fahren sie hin?“ fragt ein Uniformierter und wir antworten wahrheitsgemäß: „Belgien“. Kurz und gut, wir erklären, dass wir von der Eintracht sind und nach Lüttich zum Spiel wollen. Das klingt recht überzeugend, zumal sie auch keine andere Antwort erwartet hatten – und genau diese Vermutung sie uns auch hat anhalten lassen. Aber wir haben Glück, da wir quasi auf offizieller Mission unterwegs sind, können wir nach einer kurzen Ausweiskontrolle weiter fahren. Aufatmen allenthalben, ihr wisst ja wie das ist, wenn ihr in einer Kontrolle landet, die Anspannung steigt, selbst bei völliger Unschuld – und wie das so ist mit der völligen Unschuld, so ganz völlig ist sie in den Augen der anderen ja dann doch nie.

Kurz hinter Aachen passieren wir kurz und schmerzlos die Grenze, die belgische Autobahn ist kostenfrei, das Tempolimit von 120 km/h macht das Fahren entspannter und die Autobahn ist beleuchtet. Lüttich heißt auf französich Liège und wir folgen dem Navi, bis es uns auf die Landstraße Richtung Chaudfontaine lotst. Durch kleine Ortschaften gleiten wir elegant wie die Einheimischen, kreiseln uns durch die Kreisel, entlang an der Vesdre, bis ein Abzweig uns zum mondänen Hotel geleitet. Auf dem Parkplatz wartet schon der Mannschaftsbus, allerdings nicht auf uns. Wir nehmen unsere Karten in Empfang, winken der Mannschaft kurz zu und rollen in den Ort, hügelig ist’s wie im Schwarzwald, wir sind hungrig. Chaudefontaine ist Belgiens einziger Kurort mit Thermalquellen – doch obgleich die Aussicht auf ein gechilltes Bad verlockend ist, zieht es uns in die Brasserie La Closerie, die wir gegenüber unseres Parkplatzes entdecken. Eine gute Wahl, wie sich sogleich zeigen wird. Die Inhaber sind freundlich wie die anderen Gäste auch, wir rücken die Tische zusammen, ordern neun Humpen Bier und übersetzen mühsam die Speisekarte. Die meisten ordern Kanonenkugeln mit Pommes, aber auch das Rindersteak weiß zu vernünftigen Preisen zu überzeugen. Ein Ort, an dem es ich aushalten lässt. Aber wir müssen weiter, noch knappe 10 Kilometer bis zum Stadion liegen vor uns, 15 Minuten sagt das Navi, Google Maps scheint präziser und verkündet: 30 Minuten. Klar, es ist Berufsverkehr, ein Europacupspiel findet statt und der Belgier fährt ebenso gerne Auto wie der Frankfurter.

So stauen wir uns gemächlich von Kreisel zu Ampel, wir haben gut anderthalb Stunden Zeit bis zum Anpfiff und einen Parkschein genau vor unserem Eingang. Mit jeder Minute, die wir stehen, kommt eine weitere obendrauf. Langsam wird es eng, doch als wir eine Ausweichstrecke ausbaldowern, geht es flott voran, bis wir in Wurfweite des Stadions sind. Jetzt wird es eher zäh. Zumal der ein oder andere Fahrer gerne mitten auf dem Bürgersteig parkt und aus zwei Spuren nur noch eine wird. Für beide Fahrtrichtungen. Es ist ein mühsames Vorwärtskommen, Schnecken sausen an uns vorbei, Fußgänger sowieso. Jetzt erkennen wir das Stadion. Fußläufig keine hundert Meter. Mittlerweile sind wir einmal abgebogen und auf einer weiteren Straße gelandet, die meisten Wagenlenker halten sie für eine zweispurige Einbahnstraße. Ist sie aber nicht, der Fahrer eines entgegenkommenden Autos flucht wie ein Rohrspatz, weil er ob der Geisterfahrer nicht entgegen kommen kann. Kneipe reiht sich an Kneipe, Fußballfans hasten auf Bürgersteigen an uns vorüber. Mittlerweile ist eine Stunde vergangen, seit wir den Ort der Thermalquellen verlassen haben, kaum etwas bewegt sich. Nur ins Stadion spucken, das können wir.

Immerhin erreichen wir eine der großen Zufahrtsstraßen, laut Plan müsste jetzt bald unser Parkplatz kommen, ausgeschildert ist hier jedoch nichts. An einer gesperrten Einmündung schieben wir die Barrieren beiseite, doch der Weg scheint auf eine Brücke zu führen. Ein paar radebrechende Polizisten kommen auf uns zu, sind höchst freundlich, kennen sich aber auch nicht wirklich aus. Ein vager Hinweis schickt uns ein paar Meter weiter – und tatsächlich, der Buchstabe D könnte auf unseren Parkplatz verweisen, einzig das Tor ist geschlossen – und niemand zu sehen.

Wir schieben den Riegel beiseite, das Tor geht auf, eine Ordnerin kommt – und pötzlich geht alles ganz schnell. Wir parken den Bus, ein paar Schritte vom Mannschaftsbus von Lüttich entfernt, werden zu einem Eingang geleitet, kurz gescannt und schon begleitet uns ein weiterer Ordner am Rasen vorbei zu unseren Plätzen auf der Gegentribüne. Wir sitzen stehend direkt neben dem leeren Gästeblock, das Spiel läuft seit knapp 20 Minuten, es steht 0:0. Wir sind drin. Lüttich in gelb, die Eintracht in schwarz. Ein paar Frankfurter stehen neben uns, nur wenige Anhänger von Lüttich sind im Block, die Ordner sind freundlich. Fußball.

Auf beiden Hintertortribünen stehen Hardcorefans von Lüttich, auch direkt neben dem leeren Gästeblock, getrennt durch einen kleinen Puffer, das hätte lustig werden können. Ansonsten ist von Frankurter Seite natürlich nichts zu hören, wer es außerhalb von uns hier her geschafft hat, hält die Klappe. Die Lütticher machen ordentlich Dampf, auf den Rängen, wie auf dem Rasen, unser 12. Mann fehlt mächtig. Mit einem 0:0 geht es in die Pause. Hinter unserem Block werden Getränke verkauft, der Umlauf ist beheizt. Die paar Frankfurter babbeln sich zusammen, ehe es im Stadion zur zweiten Hälfte geht. Das Stade Maurice Dufrasne ist ein klassisches Fußballstadion, atmosphärisch dicht, rot die dominante Farbe. Rechter Hand im Block Ultras Inferno und Hellside, gegenüberliegend supporten die PHK04 (Publik HysteriK). Manchmal unterschiedlich, zuweilen gemeinsam. Leidenschaft, Stolz. Inbrunst. Es ist eine mächtige Stimmung, die Eintracht kommt kaum ins Spiel. Und dann macht Lüttich nach 56 Minuten das 1:0, das Stadion tobt – und wird mächtig leise, als ein tadelloser Freistoß von Kostic zum 1:1 ins Netz fliegt, wir fallen umeinander, skandieren „Auswärtssieg, Auswärtssieg,“ – es wird gehört. Wir bleiben aber unbehelligt. Jetzt wird die Eintracht stärker, Lüttich wackelt. Einige Lütticher Fans werfen einen Becher nach unten, wo ebenfalls Lütticher sind. Prompt kommt ein Ordner, schüttet ihnen Wasser ins Genick – und nach einem kurzen Palaver werden die Jungs nach draußen geführt. Das habe ich so auch noch nicht gesehen.

Unterdessen wird Rode an der 16er Kante gelegt. Während wir noch auf Elfmeter und Rot hoffen, gibt es Freistoß und Gelb. Für den falschen Spieler, wie sich später herausstellt. Der eigentliche Übeltäter hätte eigentlich mit Gelb-Rot vom Platz gemusst, zu spät. Mit dem 1:1 hätten wir gut leben können, der Direktvergleich wäre an uns gegangen. Vier Minuten Nachspielzeit werden angezeigt, dann flitzt Kostic auf das Lütticher Tor zu, Dost ist mitgelaufen. Aber statt den freistehenden Dost anzuspielen, kickt Kostic über das Tor. Die letzten Sekunden laufen, wie in Trance sehe ich den finalen Lütticher Angriff, der zu frei stehende Lestienne bekommt den Ball auf den Schlappen und schluppt ihn zum 2:1 für Standard in Netz, die Kurven rasten aus, wir stehen bedröppelt da. Ärgerlich, Sekunden vor Schluss eine sehr gute Ausgangslage verspielt, doch wir verfallen sogleich wieder in einen vorsichtigen Optimismus, den wir während der Heimfahrt, die zügig und ohne großes Aufsehen von statten geht, mehr oder weniger begründen. Klar, leichter ist es nicht geworden, aber in den beiden Spielen gegen London und Guimaraes müssen wir halt besser abschneiden, als der Royal Standard Club de Liège.

Wir lassen die gelbbeleuchtete Autobahn Belgiens hinter uns, verfransen uns leicht beim Wechsel von der A44 auf die A4, passieren Köln, Limburg und Wiesbaden, sausen am Flughafen vorbei und landen gegen 00:30 Uhr wohlbehalten am Stadion. Ein letzter Abschied und schon tucker ich im Dacia zurück ins Nordend. Pia schläft schon, aber natürlich wird sie kurz wach und ich gebe einen kurzen Lagebericht, bis ich todmüde in die Koje falle. Wäre das lausige Tor nicht gefallen, es wäre ein toller Ausflug geworden, so war es dennoch eine Abenteuerreise mit eine wunderbaren Crew. London dann. Wird schon klappen.