Es war 1986, ich studierte seit einem Jahr an der Frankfurter Universität Germanistik, eine Notlösung. Eigentlich wollte ich Kinderarzt werden, Medizin studieren. Aber mein Abi war mit 2,4 zu schlecht, nach zwei vergeblichen Bewerbungen sattelte ich um. Germanistik. Irgendwas mit Büchern, gelesen hatte ich ja schon immer gerne. Gelesen und Musik gehört. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Der Sprung an die Uni war ein Sprung in eine aufregende, neue Zeit, die Welt wurde groß, vielleicht zu groß für einen jungen Mann. Was gab es alles zu entdecken, was gab es alles nicht zu verstehen. Die Literatur von Camus, Böll, Hesse, der spanische Bürgerkrieg, Exilliteratur, Bloch, Marx und Marcuse, die Frankfurter Schule und die Frankfurter Nacht. Ich begriff, dass ich nichts begriff, doch es gärte. Ein Jahr zuvor wurde Günther Saré in Frankfurt von einem Wasserwerfer überfahren, die Demonstrationen schwappten in die Anfangszeit meiner Unizeit, es war der Beginn meiner konkreten Politisierung. Aus dem diffusen Unbehagen an der Welt erwuchs eine konkrete Wut. Eingewoben in einen Kokon bürgerlicher Sicherheit im beschaulichen Dietzenbach, aufgefangen in meiner Clique. Ausgehend von meiner kleinen Welt mit großen Träumen. Schwimmbad, Heavy Metal, Bier, Baggersee, Weltschmerz, traf ich auf die unfassbar große Welt, die Möglichkeiten bot und gleichzeitig mich auf mein ahnungsloses Selbst zurückwarf. Die anderen. Was wussten sie nicht alles. Konnten historischen Materialismus erklären, während ich über die Einleitung zur Dialektik der Aufklärung nicht herauskam. Kannten Bands die so unglaublich cool waren, kannten die Szenekneipen, wussten, wo es nachts um drei noch ein heißes Konzert gab, während ich einen alten Rahmen zerschlagen hatte und nun auf der uferlosen See umhertrieb, zersplittert, zerrissen. Eben noch Huckleberry Finn im Traum und bekiffte Waldspaziergänge mit Genesis im Ohr – jetzt Pippi Langstrumpf auf Heroin im Dschungel der Großstadt. Ich war ein Identitätszersplittertes Wesen ohne Selbstbewusstsein, beziehungsweise begriff meinen Zustand nicht. Das aufplatzen des Kokons, die nackte Haut verhakt im Dornengestrüpp der Welt.

Doch wenn ich erzählte oder diskutierte schien man mich ernst zu nehmen, unterstellte man mir Bildung oder Wissen. Freunde, Vertraute, Formen der Anerkennung hatte ich immer, auch wenn sie wechselten. Ich war der integrierteste Außenseiter der Welt. Und im Kosmos schwirrten Welterklärungen, die ich kaum greifen konnte. Andere schienen mir stilsicher, gefestigt, selbstbewusst, wussten, was zu tun war. Ich pendelte zwischen den Sachen, die ich mochte – und die überhaupt nicht zusammen passen. Eintracht Frankfurt, RAF, Barclay James Harvest, Ramones, Bruce Springsteen, The Clash, Abba, The Cure, Renate Kern, Heinrich Böll, Georg Trakl, Blues Brothers, Leben des Brian, Blue Velvet – und begriff nicht, dass alles seinen Grund hatte – und dieser Grund einzig in mir lag. Ich bastelte mich zurecht, trug schwarze Kleidung, färbte die Haare schwarz und wollte ein anderer sein ohne zu wissen, wer ich war. Ich konnte mich in allen krawattenlosen Welten bewegen und gehörte doch nirgends dazu.

1986 oder war es 1987 hatte ich die erste Anpassungswelle hinter mir. Jetzt kannte ich einige Szenekneipen, gab Einführungskurse für die Erstsemester und wohnte in einer kleinen Bude ohne Badezimmer, ohne Dusche mit einem Kohleofen in einem Hinterhaus in Bockenheim. Nebenan war das Stattcafé. Ich schwirrte durchs Albatross, Casa di Cultura, Pelikan, Doctor Flotte, Pielok, Batschkapp, Negativ, Gallusdisco, verlebte glückliche Tage mit meiner Freundin, die ich an der Uni kennen gelernt hatte und galt womöglich als jemand, der Bescheid weiß. Bei den Germanisten planten wir die Weltrvolution, machten Gelder für eine kleine Bibliothek im Germanisten-Koz in der Gräfstraße locker (Marcuse, Bloch, Adorno, Benjamin) als Spiegel unseres kritischen Bewusstseins, welches sich im Bücherschrank trefflicher bewundern ließ. Musikalisch hatte ich einige Altlasten entsorgt (die Jahre später wieder zurückkamen) und konzentrierte mich auf die Bands, die auszudrücken wussten, was ich vermeinte zu glauben. Violent Femmes, Wedding Present, Lords of the new church, Waterboys, Laurie Anderson. Irgendwann fiel mir die Platte „How green ist the valley“ von The men they couldn’t hang in die Hände. Und das war es. Ich wusste, dass sind Brüder im Geiste. Revolutions-Romantik gepaart mit Natursehnsucht. Historizierend mit einer gehörigen Portion Wut wie auch Gefühl. Während ich die Pogues liebte, Nick Cave bewunderte und auf Anne Clark tanzte, spiegelten The men they couldn’t hang am ehesten mein Ich. Allein der Name. Zeugt von einer Haltung, einer Kraft, einer Unbeugsamkeit. „Mich bekommt ihr nicht“! Sie waren Punk. Aber auch Melodie. Sie waren gegen die Faschisten. Und sie waren Engländer. Darob beneidete ich sie. Ich schuldbewusster Deutscher, der sich bis heute nicht mit dem Land versöhnt hat, welches die Nazis auf Jahrzehnte vergiftet hatten. Ja, ihr Drecksfaschos, ihr habt auch mein Leben versaut. Wie kann man unbeschwert leben, wenn man weiß, dass sie alles ins Gas gesteckt haben, das anders war, als sich ein Nazihirn vorstellen kann. Allein dafür hasse ich sie bis heute.

Ein paar Monate später kam die neue Platte von den Männern die sie nicht hängen können in die Läden. Waiting for Bonaparte. Noch am Tage des Erscheinens drehte sie sich auf meinem Plattenteller. Bis heute kann ich „Smugglers“ auswendig. Singe „Bounty Hunter“ lauthals mit. Und behaupte mit „The Colors“:

Red is the colour of the new republic
Blue is the colour of the sea
White is the colour of my innocence
Not surrender to your mercy.

Es war vor allem Stefan Cush, dessen Lyrics und Gesang mich einfing, auch wenn Phil Odgers ihm wenig bis nichts nachstand. Natürlich hatte ich mir längst die erste Platte besorgt. „Night of a thousand candles“ mit den Klassikern Ironmasters und einem phantastischem Cover von „Green Fields of France“ und ich habe sogar die Minimaxi „Greenback Dollar/Hell or England“. Ironmasters live in der Batschkapp Ende der 80er – was für ein Brett. Mit Silver Town und The Domino Club folgten in den nächsten Jahren zwei weitere Alben mit großen Songs. Billy Morgan. Oder Industrial Town, Rain Steam & Speed. Ich werde nie vergessen, wie ich mit meinem Walkman selbstverloren durch La Valetta lief, meine erste Flugreise überhaupt – nach Malta, und Company Town mit Blick aufs Meer hörte :

In the town I was born things are getting very strange
People there I hardly recognize
All of my old set have packed their bags and left
Since home became a business enterprise.

Textzeilen, die sich bis heute in mein Hirn brannten.

Dann hörte ich lange nichts von ihnen. Ich verließ die Uni, trieb durch die Zeit, verliebte mich in Techno, tanzte auf der Love Parade und mäanderte durch Amsterdam. Erst Ende der 90er entdeckte ich, dass sie mal wieder auf Tour sind. Wieder in der Batschkapp. Was hatte ich mich gefreut. Am Merchstand vertickte ein leicht fülliger ältere Herr die Platten, die ich alle schon hatte. Dann kamen sie auf die Bühne. Der ältere Herr hielt nun eine Gitarre in der Hand. Es war Stefan Cush. Es war nicht mehr der hagere junge Kerl mit Docs und Jeans und der Option auf eine bessere Zukunft. Ich war irritiert, das Konzert war dennoch ganz gut. Aber es war nicht mehr so wie früher. Und es war das letzte Mal, dass ich die Band live gesehen habe. Bis heute erschienen noch einige Platten, immer wieder mit großartigen Songs wie Dennis Law & Ali MacGraw oder Twilight Road. Und immer wieder landeten sie im Autoradio.

We drove from San Sebastian to Frankfurt on the Main
Watched winter turn to springtime and the snow turn into rain
In the darkness on the motorway we lost our silhouettes
But knew that we were still alive by the tips of our cigarettes

In den letzten Jahren waren wir immer mal wieder für Konzerte in London. Carter USM, And also the trees, Jim Bob, Maximo Park, The Young Gods. Und immer wieder hoffte ich, eines Tages „The men they couldnt’t hang“ dort zu sehen. Doch es hat sich nie ergeben.

Heute morgen erfuhr ich über Twitter, dass es ein Album gibt – nur mit Songs, die Stefan Cush geschrieben und gesungen hat. Ich klickte auf den Link – und sah in einem Kommentar „RIP Stefan“. Ich dachte, weshalb schreibt jemand so etwas? Doch ein kurzer Blick in die Suchmaschine bestätigte es: Während ich im Februar eine Twitterpause machte, war Stefan Cush einem Herzinfarkt erlegen. Und ich wurde traurig. Sehr traurig. Kurz schossen mir die Tränen in die Augen. Und ich reiste zurück in die Zeit, als ich die Band neu für mich entdeckte. Erinnerungen tanzten durch mein Hirn. Es will mir scheinen, als sei etwas zu einem Abschluss gekommen. Mit Cush, wie er auf den ersten Platten kurz genannt wurde, ist ein Mann gegangen, der mir half, ohne es auch nur im Enferntesten zu ahnen, zu mir selbst zu kommen. Zumindest in die Nähe. Dafür sei ihm posthum gedankt. Auch für all die schönen Momente, die er und die Band mir geliefert haben. Begonnen in meinem Hochbett in Bockenheim, über den Urlaub mit der Ente und meiner damaligen Freundin in Italien, die Boxen in Keksdosen eingebaut. Der Meeresblick auf Malta bis hin zur Rückfahrt von einem Freundschaftsspiel der Eintracht irgendwo in Hessen vor ein paar Jahren. Sonne, ein paar Bier und Unterwegssein. Jetzt werde ich die Männer, die sie nicht hängen können nie wieder sehen. Auch das ist schade. Ruhe in Frieden Stefan. Und Danke!

Woke up when the light was nearly gone
Driving this car where the sun had shone
Gotta be home, home by dark

Und niemals vergessen:

So listen to the sound of marching feet
And the voices of the ghosts of cable street
Fists and stones and batons and the gun
With courage we shall beat those blackshirts down