Als wir am nächsten Morgen erwachten, waren wir immer noch Europacup-Sieger. Aber im Gegensatz zum Pokalsieg 2018 schwebten wir nicht durch die Stadt, im Gegenteil: Eine seltsame Schwere hatte uns befallen. Die ersten Bilder und Videos trudelten ein, die Begeisterung schien keine Grenzen zu kennen. Die Kanäle quollen über von Lobeshymnen, die Texte und Bilder überschlugen sich mit sentimentalen Emotionen und ich hatte den Eindruck, dies alles habe mit mir nichts zu tun. Mein weißes Eintracht Trikot hängte ich auf die Wäscheleine und zog es dann trotzig an. Weiß, ohne Werbung. Grabowski 1975.
Wir ließen den Tag langsam angehen. Um 18:30 sollte unser Bus zurück nach Faro abfahren. Da wir unser Zimmer auch noch für die kommende Nacht gebucht hatten, konnten wir das Gepäck im Hotel lassen, als wir uns auf den Weg zum Frühstückscafé machten. Unterwegs besorgten wir uns noch zwei Tageszeitungen. Eine Daily Mail und eine spanische. Die Daily zeigte einen geknickten Spieler der Rangers mit der silbernen Medaille um den Hals vor dem Europapokal, darunter stand in großen Lettern geschrieben: Brutal. Wundersamer Weise hatten die meisten Schotten die Stadt schon verlassen – oder schliefen den Schlaf der Frustrierten. Es war schon eigenartig, wie die so hoch gelobten Fans der Rangers unmittelbar nach Ende des Elfmeterschießens nahezu fluchtartig das Stadion verlassen hatten. Kaum jemand feierte die Mannschaft, die so tragisch im letzten Moment doch noch verloren hatte. Dabei war die Road to Sevilla doch auch für diesen Club ein immenser Erfolg. Aber dies sollte nicht unser Problem sein. So ganz nebenbei hatte sich die Eintracht, genau wie das Frauenteam auch, für die Champions-League qualifiziert. Und zudem für das Supercup-Finale in Helsinki. Flüge und Unterkunft hatten wir schon vor dem Finale festgemacht. Champions-League. Die Eintracht. Als amtierender Europacup-Sieger. Solche Sätze zu schreiben klingt ähnlich absurd, wie wenn dir jemand 1994 vorhergesagt hätte, dass wir Ende 1996 am Abgrund der zweiten Liga stehen würden. Aber so ist es. Und so war es.
Wir frühstückten wie schon gestern im mo.ma, diesmal unter freiem Himmel und konnten von unseren Stühlen aus das geschäftige Treiben eines temporären Flohmarkts beobachten. Eine fröhliche Kellnerin brachte uns Toasts und Café, wir futterten wie die Großen und ließen uns dann durch Sevilla treiben, bewunderten die violetten Blüten, spazierten noch einmal über den Fluss, trafen Mitch, der ebenfalls noch durch die Stadt tigerte, ließen uns von den Düsen der Schattendächer der Restaurants mit Wasserdampf besprühen und kehrten ein letztes Mal im Café bei Santa Ana ein. Als die Zeit gekommen war, packten wir frisch geduscht unsere Habseligkeiten zusammen und wanderten durch die gekühlte Markthalle zum Busbahnhof. Im dortigen Restaurant, das den Charme aller Busbahnhofrestaurants aufwies, tranken wir einen letzten Café con Leche. Die elektronische Anzeigetafel verwies auf die Abfahrtsspur und -zeit und mit den Minuten wurde es immer voller. Hie und da gratulierte uns ein Schotte zum Sieg, die Stimmung war entspannt. Wir rauchten draußen noch ein Kippchen – dann kam er. Basecap, langer Bart, blaues Trikot und sangesfreudig. In brüllender Lautstärke schmetterte er unverständliche Schlachtrufe, animierte die Umstehenden, es ihm gleich zu tun und war ohrenscheinlich gut gelaunt. Damit war klar, wer bei uns im Bus mitfahren sollte – und es war auch klar, wo er sitzt. Natürlich. Sein Kumpel, lautes Organ, nagelneue Zähne zog mit ihm ein. Und so saßen pünktlich um 18:30 Uhr knapp 50 Leute im Bus, wovon 46 schwiegen. Der bärtige wanderte hinter zu uns, klopfend, singend, der andere kauderwelschte mit keckerndem Lachen in einer Lautstärke, dass du über den Kopfhörer das gelesene Wort nicht mehr verstandest. Von Sevilla bis Faro. Sie hockten sich in die vorletzte Reihe und schotteten vor sich hin. Völlig friedlich. Aber nervig bis ins Mark, zumal sie noch ein paar Kameraden fanden, die mitspielten. Wenigstens hatten sie kein Bier dabei, um der Sache noch ein bisschen mehr Drive zu geben. Wir rollten an, ein letzter Blick auf Sevilla. Augen zu und durch. Blablabla FOCKING Blablabla FOCKING Blablabla FOCKING SINGSINGSING FOCKING. BLABLABLA … Es war die Hölle. Und wir wussten nun, was „abschotten“ wirklich bedeutet.
Wir waren noch keine Stunde unterwegs, als unser Bus an einer Autobahnraststätte in Spanien stoppte. Unsere Freunde nutzten die Gelegenheit und deckten sich mit Bier ein. Unfassbar. Auf der ganzen Hinreise hatte der Bus kein einziges Mal angehalten. Pia sackte in ihrem Sitz zusammen. Nebenan stand ein ausgebrannter Bus. Wir waren unschuldig. Noch. Als sich der Bus in Bewegung setzte, fehlte der Kamerad mit den neuen Zähnen. Focking geil. Aber irgendjemand machte den Fahrer zu unserem Leidwesen genau auf jenen Umstand aufmerksam. Und er hielt wieder an. FACK. Natürlich dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis Kamerad Focking lautstark mit vollen Plastiktüten in den Bus wackelte. Blablabla FOCKING Blablabla FOCKING Blablabla FOCKING SINGSINGSING FOCKING. BLABLABLA … Es war die Hölle. Der Boden war unmittelbar danach übersät mit Chips.
Die Strecke zog sich, doch wir überquerten nach einer Weile den Guadiana und waren zurück in Portugal. Ich blickte aus dem Fenster, sah Esel und Störche an mir vorüberziehen, Monte Gordo, die Ria Formosa, Tavira, Olaho, Faro, Pia hatte gecheckt, dass kurz nach unserem Halt in Faro ein Zug nach Fuseta abfahren sollte. Kaum landeten wir am Busbahnhof, schnappten wir unser Gepäck, flutschten schnell wie Wind aus dem Bus und eilten zum eigentlichen Bahnhof. Gute zehn Minuten bis zur Abfahrt der Bahn. Wir stellten uns am Ticketschalter an. Dort standen zwei Passagiere vor uns. Am Schalter selbst waren zwei Damen ins Gespräch vertieft, die Minuten zerrannen wie flüssiges Blei. Es schien, die Damen wollten mit dem Zug bis Flensburg reisen und planten mit dem Bahnangestellten die Reise durch, wie auch immer. Die junge Frau vor uns wurde ähnlich nervös wie wir. Kurz vor Toresschluss wanderten die beiden ersten zur Seite, alle anderen holten sich binnen Minuten ihre Tickets und sprinteten zum Zug, der noch weitere fünf Minuten warteten sollte. Dann setzte sich der silberblaue Koloss in Bewegung. Und natürlich konnte man auch die Tickets beim Schaffner im Zug kaufen. Ich blickte aus dem Fenster. Mit jeder Minute und jedem Stopp kam Fuseta näher, rechter Hand die Blicke auf die Ria Formosa. In Fuseta A stiegen wir aus und wanderten ein paar Minuten hoch zum Hotel. Aus der Kirche gegenüber drang Gesang und Weihrauch. Unser Zimmer war aufgeräumt, wir fühlten uns wieder zuhause. Ums Eck gab es noch eine Fischsuppe und einen Vinho Verde, dann wanderten wir am Kanal an den sachte schaukelnden Booten vorbei an den Strand. Ruhe. Endlich Ruhe. FOCKING STILLE. Auf der Dachterrasse gönnten wir uns einen Absacker und schliefen als Europapokalsieger ein. In Frankfurt hatten sie derweil den Tag zur Nacht gemacht und waren vor Freude durchgedreht. Nur OB Peter Feldmann kam dabei nicht ganz so gut weg. Und die Tagesflieger waren auch alle wieder sicher gelandet
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Früher Morgen, Fuseta erwachte. Wir waren immer noch Europapokalsieger. Doch keine überbordende Freude durchströmte uns, höchstens über die Gewissheit, dass wir wieder in dem beschaulichem kleinen Ort aufwachten, den wir ins Herz geschlossen hatten. Und dass niemand an die Deckenverkleidung hämmerte und dabei „FOCKING“ brüllte. Ich brühte mir einen Tee, während Pia ihren Supermercado aufsuchte. Heilige Stille. Dann setzte mich auf den Balkon und las. Rechter Hand öffnete ein älterer Portugiese sein Garagentor und stützte die Flügeltür routiniert mit zwei Holzbalken ab. Dann rollte sein altersschwacher Japaner aus der Einfahrt. Touristen parkten ihre Fahrzeuge auf der gegenüberliegenden Seite, blickten kurz zu mir hoch und wurden von der gläsernen Eingangstür verschluckt. Einer der Gäste trug ein Trikot von Barcelona, ich musste jedes Mal grinsen, wenn ich ihn sah.
Die Katze am Wegesrand. Die umher sausenden Schwalben mit ihren hängenden Nestern unter den Dächern. Möwen. Wir durchstreiften den Ort. Tranken einen Galao in der Fußgängerzone, beschauten uns die Markthalle von innen und lehnten dankend die Angebote für fangfrischen Fisch ab. Pia hatte derweil ein unscheinbares Restaurant aus dem Buch entdeckt, wir schauten es uns an und beschlossen, des Abends dem Casa Corvo einen Besuch zu widmen. Unten am Strand herrschte Ebbe, wir wanderten vor bis zum Anlegehäuschen. Angler warteten stoisch auf ihren Fang, die Angeln entweder im Sand steckend oder in modernen Haltern. Am Haus schlichen Muschelsucher im Schlick umher, auf der Suche nach einem Abendessen, hie und da tuckerte ein Boot durch die Lagune. Es war kein Badetag, zu wenig Wasser auf der einen Seite, auf der anderen war das typische Azur einem Grau gewichen. Auch die übertriebene Hitze hatten wir in Sevilla gelassen. So futterten wir einen Burger im O Farol, dessen Bedienungen leuchtend blaue Shirts trugen, auf deren Vorderseite ein ukrainischer und ein portugiesischer Schmetterling nebeneinander flatterten, auf der Rückseite die Werbung für die Bar. Ich fragte, ob die T-Shirts käuflich zu erwerben seien. Sie schaute mich leicht irritiert an und meinte heute nicht, aber morgen und fragte unsere Größen ab, die wir ihr bereitwillig übermittelten.
Vom Kanal aus kannst du mehrstündige Touren auf den Touristenbooten unternehmen. Die flotten bringen dich fix auf eine Insel am Atlantik, die anderen tuckern durch die Ria Formosa und steuern unterschiedliche Ziele verschiedener Fahrdauer an. Eigentlich wollten wir morgen eine zweistündige Tour unternehmen, doch da diese Tour just am Samstag nicht angeboten wurde und das heutige Wetter geradezu einlud, über die Ria Formosa zu tuckern, besorgten wir uns am kleinen Verkaufsstand zwei Tickets und trieben über die mit Fischmosaiken versehenen Fußgängerzone Richtung Heimat. Dabei fielen für Pia noch ein paar rote Ledersandalen ab, die in drei Farben erhältlich waren: Rot. Schwarz. Weiß. Die Farben unserer Eintracht. Ja, wir waren Europapokalsieger. Auch heute noch. „We are the champions“ hatten wir in die Flutlichtnacht Sevillas gebrüllt und uns nicht so gefühlt. Auch heute noch nicht. Ich saß auf dem Balkon und las. Aus der kleinen schwarzen Anker-Box erklang Ana Vilela.
Unser Boot sollte um halb drei ablegen, kurz vor der Zeit spazierten wir am Kanal entlang. Wir waren nicht die einzigen, die an diesem Nachmittag auf die Idee gekommen sind, diese Tour zu unternehmen. Die ersten Mitreisenden gingen an Bord und setzten sich alle auf eine Seite, worauf der Kahn leicht zu kippen drohte. Also balancierten wir das Boot gemeinsam aus. 14 Touristen und Isabell, unsere Kapitänin dazu. Als wir schon ablegen wollten, stiegen noch zwei Nachzügler zu, wir legten die Schwimmwesten an und tuckerten mit leisem Motor los. Wir saßen ganz vorne und schoben uns den Kanal entlang, vorbei an den zwei Leuchttürmchen und passierten gemächlich den Strand Richtung der Ilha de Armona. Möwen begleiteten uns, als wir die eher unscheinbaren Austerfarmen erreichten. Isabell erklärte uns, dass die Austern hier in weitaus kürzerer Zeit als in Frankreich zur Verkaufsgröße heran wuchsen. So werden sie zur rechten Zeit in Richtung Arcachon transportiert, um dort einige Wochen nachzureifen, um anschließend als französische Austern auf den Märkten der Welt zu landen. Oystercrusher, Vögel mit spitzen Schnäbeln, beäugten uns und spekulierten auf ein kostenloses Abendessen. Zu Pias Leidwesen entpuppte sich der erhoffte Flamingo als Kormoran.
Nach einer knappen Stunde legten wir auf der Ilha de Armona an. Kinder sprangen jauchzend vom Steg ins Wasser, eine halbe Stunde blieb uns, das Eiland zu erkunden. Der Weg führte an einigen Restaurants vorbei durch eine kleine von weißen Häusern gesäumte Siedlung, es herrschte eine angenehmen Stille, allein die Strecke zum Atlantik auf der anderen Seite der Insel schien zu weit für unser Zeitbudget. So bogen wir ab, erreichten eine kleine Bucht und blickten aufs offene Wasser. Ein altes Fischerboot lag am Strand. Ich setzte mich darauf, um meine Schuhe auszuziehen – mit dem Erfolg, dass der Anstrich abfärbte und meine Sneaker in Teilen die blaue Farbe des Bootes annahmen. Barfuß tapsten wir durch das Wasser, bis es aus einem der Ferienhäuschen rief: Eintracht!
Es war Heinz aus Gelsenkirchen, der sich vom Sieg der Eintracht begeistert zeigte und sich gleichwohl als eingefleischter Schalker präsentierte. Wir kamen natürlich sofort ins Gespräch. Heinz sprintete ins Haus und kam mit drei kleinen Sagres-Fläschchen zurück. Gemeinsam stießen wir auf den Europapokal-Sieg an, es war der bisherige Höhepunkt unserer Feierlichkeiten. Heinz war sogar einmal im Frankfurter Stadion, damals, 2005, beim 6:0 Sieg der Eintracht im Pokal. Dieses Spiel hatten wir auch gesehen. Und tragen weitaus bessere Erinnerungen als er in unseren Herzen. Zum Abschied gab es noch ein Roadbier. Keine zwei Minuten später hockten wir wieder am Steg und beobachteten die quietschvergnügten Kids im Wasser, bis wir erneut unser Boot enterten und ablegten. Jetzt hatte es Isabell eilig, wir sausten die Lagune entlang, das Boot peitschte durchs Wasser, bis uns ein Aufschlag patschnass spritzte. Unsere Kapitänin hatte ein Einsehen und drosselte die Geschwindigkeit, so dass wir wieder in aller Gemütsruhe durch die Ria Formosa schipperten. Die Austernbänke lagen jetzt unter Wasser, die Flut hatte ihren Zenit erreicht. Als wir wieder am Kanal festmachten, waren alle wieder trocken. Auf dem Heimweg trafen wir in der Tapas Bar Chris und Gernot, die nebenan in Arroteia untergebracht waren und ebenfalls nach dem Spiel in Sevilla nach Portugal zurück gekehrt sind. Gernot, der Glückliche nannte in Arroteia ein Haus sein eigen. Natürlich trugen sie beide ihre Eintrachttrikots.
Früher Abend. Wir beschlossen, es uns gut gehen zu lassen, spazierten in Richtung Markthalle und hatten Glück. Die freundliche Bedienung, er hieß Bruno, wie sich später heraus stellte, wies uns im Casa Corvo einen Tisch unter freiem Himmel zu, einen VIP-Tisch, wie er lachend betonte. Vor unseren Augen bereitete Fernando, Mitinhaber des kleinen Restaurants die frischen Fische zu, die nur wenig später auf dem Holzkohlegrill schmurgelten. Fernando, ein hübscher Kerl, der zuvor einige Zeit in England verbracht lebte, hatte das Casa Corvo vor gar nicht allzu langer Zeit von seinem Onkel übernommen und führte eine alte Familientradition fort. Die schwarz weißen Bilder seiner Ahnen hingen gerahmt im Restaurant auf der anderen Straßenseite. Wir orderten Lachs und Gambas, Vinho Verde und Wasser und beobachteten Fernando beim Zerlegen von Red Snapper, Doraden, Brassen oder dem Zerschneiden der dunkelroten Thunfischfilets. Besprüht mit einem Hauch Olivenöl, gewürzt mit hagelgroßen Salzkörnern, gewonnen aus heimischen Salinen. Ein weiterer Angestellter entdeckte uns – und vor allem mein Eintracht-Trikot. Binnen weniger Minuten wurden wir und Antonio Freunde. Da der Laden nicht überfüllt war, konnte er mit uns über das Spiel plaudern, das er natürlich im TV verfolgt hatte. Und er kannte sich aus – als Fan von Benfica Lissabon, der schon in der Welt herum gekommen war. Er übernahm kurzer Hand unseren Tisch von Bruno, zeigte uns Bilder auf seinem Handy vom Markt an der Konsti, wo er schon dunkles Bier getrunken hatte, Bilder vom Apfelwein Dax in Sachsenhausen, Gerippte und Bembel. Ein kleines Stück Heimat ploppte vor unseren Augen auf. Kurz darauf brachte er uns Gambas, Lachs, Salat, Pommes und alles was dazu gehört und immer, wenn Antonio ein paar Minuten Zeit hatte, kam er zu uns und wir quatschten über Fußball, die Eintracht und über Fuseta. Fernando schaltete sich von Zeit zu Zeit ein – und so vergingen wunderbare Stunden im Casa Corvo, die mit Bica und Medronho endeten. Als wir bei Antonio für den morgigen Abend einen Tisch reservieren wollten, lehnte er ab. „Das machen wir nicht. Kommt einfach vorbei. Wenn alles besetzt ist, trinkt ein Bier und wartet, bis ein Platz frei wird. Es wird immer ein Platz frei“. Glücklich und zufrieden drehten wir noch eine Runde am Strand und tranken noch einen Vinho Verde auf unserer Dachterrasse. Frankfurt schien weit weg.
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Samstag Morgen in Fuseta. Einen vollen Tag hatten wir noch in diesem kleinen Ort an der Ria Formosa, einen Tag ohne Pläne, ohne Ziel und Auftrag. Wir frühstückten unaufgeregt, trieben uns die schmalen Gassen entlang, Autos quetschten sich eng an uns vorbei, wir tranken Galao im O Pescador, wo sich wie immer die Männer des Ortes mit einigen Touristen mengten, die Frauen saßen meist im Café auf der anderen Straßenseite. Unten im O Farol waren unsere gestern georderten Shirts noch nicht eingetroffen, heute Abend sollte es soweit sein. Noch weiter unten, in der Bar am Strand trafen wir auf Holger, der in Frankfurt relativ nahe bei uns wohnt. Er war mit dem Rad aus Olaho gekommen und gönnte sich in Fuseta ein Päuschen – und brachte uns auf die Idee, mit dem Wassertaxi für ein paar Euro auf die Ilha de Fuseta zu fahren. Von dort sind es nur wenige Meter bis zur Atlantikküste. Keine fünf Minuten später sausten wir über das Wasser. Isabell kam uns mit einem anderen Boot entgegen. Pia winkte ihr und sie winkte zurück. In unserem Gepäck befand sich nun ein riesiges leuchtend orangenes Tuch, das wir kurzerhand auf dem Weg zum Hafen erworben hatten. Die flotte Fahrt endete nach wenigen Minuten, eine weitere Minute später lagen wir am nahezu menschenleeren Strand, breiteten unser orangenes Tuch aus und blickten auf den rauen Atlantik, dessen Wellen ein paar Meter vor uns ausrollten. Ich stellte mich ins Wasser, breitete im Eintracht-Trikot meine Arme aus – und war Europapokalsieger. Dann stürzte ich mich in die Fluten. Pia wanderte am Strand entlang und suchte Muscheln.
Ich wurde eins mit der Welt. Im Buch, welches ich las, wurde genau der Ort beschrieben, an dem ich mich gerade befand, die Wellen rauschten, der Blick schweifte in die Ferne, in ein Irgendwo, in dem alles möglich scheint, so man nur daran glaubt. Und träumt. Und hofft.
Pünktlich um 17:30 Uhr wurden wir zur vereinbarten Zeit abgeholt und tuckerten an den beiden Leuchttürmen vorbei wieder in den Kanal und stiegen gekonnt an Land. Einige Souvenirlädchen später blickten wir auf unserer Dachterrasse über Fuseta. Und unser letzter Abend zog ins Land, der letzte Abend in diesem kleinen Ort, in dem das Leben manchmal stehen geblieben scheint. Der Ort, der sich in unsere Herzen geschlichen hatte, so unaufgeregt und leise, wie es manchmal im Leben geschieht.
Als wir wieder im Casa Corvo aufkreuzten gab es ein großes Hallo und wir konnten uns wieder an den gleichen Tisch setzen, an dem wir den vorherigen Abend verbracht hatten. Bruno kam herbei, Fernando grinste vom Grill herüber und Antonio bekam sofort ein paar von den schönen Aufkleber des tollen Fotos von Kathrin, die Jürgen in Frankfurt graphisch umgesetzt hatte, in die Hand gedrückt. Er freute sich aufrichtig– alleine, dass ich mein Eintracht-Trikot nach über 60 Stunden nicht mehr anhatte, betrübte ihn ein wenig. Wollte er doch ein Foto für seinen Frankfurter Kumpel machen – und ich trug nun mein leuchtend gelbes Hemd ohne Adler. Da Pia jedoch ihre Frankfurt-Liebe zeigte, war die Situation gerettet, wir schossen Selfies, orderten Thunfisch und Lachs, der binnen Sekunden vor unseren Augen zubereitet wurde, dazu gab es wie so oft Vinho Verde. Wir lachten, quatschten und futterten mit Liebe, Fernando erzählte uns seine Geschichte und Antonio die seinige dazu. Herzliche und liebenswerte Menschen, die ihre Sache freundlich, gekonnt und ohne Speränzchen erledigen, nicht um jede Mark einen Bohei veranstalteten und dennoch zufrieden wirkten. So ähnlich sieht meine Vorstellung von Glück aus. Vor allem, wenn das Meer nur einen Steinwurf entfernt liegt. Wenn die Dinge gut laufen, werden wir Antonio wiedersehen, vielleicht sogar eines Tages in Frankfurt. Dann werden wir den Vinho Verde gegen Apfelwein tauschen und ihm eine Karte für die Eintracht besorgen.
Die Rechnung kam in einer Fischdose. Dunkle Nacht legte sich über Fuseta, wir verabschiedeten uns von unseren Gastgebern in aller Herzlichkeit und wussten, dass wir in 24 Stunden über 2.500 Kilometer entfernt wieder in einer anderen Welt sein würden. Aber die Erinnerungen werden bleiben, solange wir leben. Unten, im O Farol, bekamen wir sogar noch unsere blauen Shirts und spazierten ein letztes mal durch den nachtdunklen Ort, nahmen vorläufig Abschied vom gelb-roten Häuschen, das langsam in der Ria Formosa verwittert und tranken den letzten Vinho Verde für unbestimmte Zeit in Portugal – dann löschten wir die Lichter und schliefen zufrieden aber ein bisschen traurig ein.
Und so brach er an, der letzte Morgen in Fuseta. Wir frühstückten draußen im Café in der Fußgängerzone, das schon gut besetzt war, das O Pescador nebenan öffnete derweil erst jetzt seine Pforten. Jung und Alt saß beisammen, einige Touristen dazwischen, harmloses Palaver allerorten. Der letzte Gang an den Strand, das letzte Souvenir, ein letzter Gruß. Dann packten wir unsere Siebensachen zusammen, tranken noch einen Tee auf dem Balkon, ich klappte die letzte Seite des Buches zu und Pia orderte ein Uber, das binnen Sekunden kommen sollte. Der Fahrer wohnte zufällig um die Ecke, wir warfen unsere Bündel in den Kofferraum und rollten alsbald auf die N 125, vorbei an der Hähnchenbraterei, der ich beim nächsten Mal unbedingt einen Besuch abstatten muss. Vorbei an den Graffiti Olhahos, den in den Bars sitzenden Portugiesen und landeten eine halbe Stunde später am Flughafen in Faro, der uns doch eben erst ausgespuckt hatte. Eine Woche lag zwischen Ankunft und Abflug, eine einzige Woche, die dennoch das Leben veränderte. Wir kannten nun einen Ort, den wir zuvor noch nie gesehen hatten und der womöglich ohne die Eintracht nie von uns entdeckt worden wäre. Zumindest nicht so schnell. Eine Woche, in der Eintracht Frankfurt den Uefa-Cup zum Zweiten Mal nach 1980 gewonnen hatte. Auch 1980 war ich dabei, damals mit meiner Fußballmannschaft, der SG Dietzenbach. Beim 1:0 von Fred Schaub hatte mir jemand vor Jubel von hinten dicht an meine Schuhe gekotzt. Hölzenbein hatte Jürgen Grabowski nach Abpfiff vor glücklichen 61.000 den Pokal überreicht und ein ganzes Stadion skandierte den Namen des verletzten Kapitäns der Frankfurter Eintracht. Jürgen Grabowski lebt nicht mehr. Zum zweiten Mal war es ihm nicht vergönnt, diesen großen Triumph der Eintracht so zu erleben, wie es sich eigentlich gehörte. So wie viele Weggefährten der vergangenen Jahrzehnte nicht mehr dabei waren. Der Doc hatte kurz zuvor seine Eva verloren, Martin war gestorben, Kurt E. Schmidt, Christoph damals noch so jung, Ralf und viele andere – die, würden sie heute noch einmal zurück auf die Erde kehren, die Erzählung der Geschichte des unglaublichen Sieges der Eintracht gegen Glasgow Rangers mit offenen Mündern entgegen nehmen. „Campeones, Campeones, Campeones SGE“. Leise diese eigentlich unglaublichen Worte murmelnd, lief ich durch den überschaubaren Flughafen in Faro, Portugal.
Dort trafen wir Chris und Gernot wieder, die im gleichen Flieger sitzen sollten. Die Zeit rollte gemächlich ins Land, alles ging seinen entspannten Gang, fast pünktlich hoben wir ab, schwebten über Madrid und die Biscaya, über Paris und Mainz, bis wir in Frankfurt sicher landeten. Dann war die Aufregung groß, es gab Probleme mit dem Gepäck und es hieß, es käme womöglich erst morgen. Nach 75 geschlagenen Minuten purzelten endlich die ersten Koffer aus Faro auf das Gepäckband, wo noch die Koffer aus Malaga vom Flug zuvor ihre Runden drehten. Irgendwann purzelte mein Rucksack aufs Band, dann war auch Pias Koffer dran und so dackelten wir ab, warteten mit Chris auf die S-Bahn und rollten zur Konsti, wo wir Steffen im Eintracht-Trikot trafen. Dann rasselte die Straßenbahn Linie Nummer 12 zum Günthersburgpark, und wir liefen die paar Meter nach Hause. Mein Eintracht Fähnchen hing noch im Fenster, die Tomaten lebten bis auf eine noch und unser Vermieter rief von seinem Balkon aus runter: Und? Die Eintracht?
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Eine Woche später stehe ich wieder im Eintracht Museum. Ein neuer Film lagert auf der Festplatte. Und zum ersten Mal sehe ich Bilder des Spiels auf einem Bildschirm. Die Verletzung Rodes. Das Gegentor. Borrés Ausgleich. Die Parade Trapps. Der finale Elfmeter. Die Jubelorgien. Trapp, der einem Journalisten mit Fingerzeig auf die Kurve zuruft: Guckt euch das an. Guckt euch das an. Mir schießen die Tränen in die Augen. Ana wuselt nebenan herum. Vielleicht war das der Moment, an dem ich wirklich Europapokal-Sieger wurde. Manchmal packt dich das Glück am Schlafittchen und wirbelt dich durch Zeit und Raum, will gar nicht mehr los lassen. Und manchmal packt es erst gar nicht zu. Bzw. so leise, dass du es gar nicht merkst, nur unmerklich wird der Druck fester. Und dann drückt es dir doch eine Träne ins Auge. So wie jetzt, da ich mich erinnere, an Fuseta, an Sevilla, die Hitze im Stadion, goldenes Konfetti, die Wut im Erfolg, der Anruf von meinem ältesten Freund Höke mitten in der Nacht, die Einsamkeit auf dem Weg ins Hotel und der Blick auf den Atlantik. Was soll ich sagen, die Reise geht weiter. Mit Pia. Natürlich mit Pia. Zusammen sind wir stärker als einer allein. Und dafür danke ich ihr von Herzen. Eintracht Frankfurt international.