Kaum waren wir in Fuseta angekommen, mussten wir auch schon wieder los. Wir ließen den größten Teil unserer Habseligkeiten in der Unterkunft und spazierten mit leichten Gepäck in Richtung Bahnhof. Kein Wölkchen trübte den klarblauen Himmel, die Station Fuseta – Montcarapacho lag wie gemalt im Morgenlicht.

Einige Fahrgäste warteten schon auf den frühen Zug. Ich war ein bisschen traurig, Fuseta zu verlassen – andererseits wartete auf uns das Finale des Europapokals. Eintracht Frankfurt gegen Glasgow Rangers. Allein schon der Gedanke wirkte surreal. Was haben wir die Fahrten nach Europa zelebriert. Damals, nach Kopenhagen oder Istanbul, als nur eine überschaubare Anzahl von Fans sich auf die Reise gemacht hatte. Der Strand von Tel Aviv, die orangene Meute in Bordeaux, die Tragik gegen Porto. Unbeschwerte Badetage auf Zypern. Die römischen Nazis von Lazio, Eistage in Charkiw, der nunmehr so zerstörten Stadt in der Ukraine. Später dann der Sieg in Mailand, der Spaziergang in Lissabon am Tejo entlang. Das Drama bei Chelsea. Und die Heiterkeit in Tallinn, Volleyball in Vaduz, Straßburg, mein Geburtstag in Guimaraes, Lüttich, Arsenal – bis hin zum abrupten Ende in Salzburg. Dann der erneute Anlauf. Die Busfahrt mit Freunden nach Antwerpen. Der Urlaub auf Sifnos mit dem Abschluss in Piräus. Camp Nou. 48 Stunden London West Ham non Stop. Bilder schmolzen in meinem Hirn zu einer einzigen bunten Melange des Unterwegsseins, die Ansammlung von Momenten, in denen das Leben besonders ist. Die Gerüche, Augenblicke, Begegnungen der Welt. Und jetzt hatte es die Eintracht tatsächlich ins Endspiel geschafft. Rom, Mailand oder London

Unser Zug war nicht nur unpünktlich. Er kam gar nicht. Diese Erkenntnis übermittelte uns ein freundlicher Portugiese, nachdem wir eine halbe Stunde vergeblich gewartet hatten. Der Streik ging weiter – auch heute sollten keine Züge fahren. Zumindest in Richtung Faro. Die Strecke in die andere Richtung wurde erstaunlicher Weise bedient. So bestellten wir uns ein zweites Mal ein Uber und sausten die Strecke, die wir vorgestern erst befahren hatten, diesmal in Richtung Faro. Am Busterminal war die Reise fürs Erste zu Ende. Die ersten Cafés hatten geöffnet – und die ersten Schotten saßen an den Tischen und tranken Bier. Pia ganz in Schwarz mit ihrem Eintracht-Gürteltäschen, ich in weißem Hemd und kurzer schwarzer Cargohose. In einer Nebenstraße entdeckten wir ein kleines Frühstückscafé, wir setzten uns draußen hin, orderten Croissants, Pasteis und Galaos und hockten inmitten der Rangersfans, deren Anzahl eine Ahnung vermittelte, was uns in Sevilla erwarten würde. Die Jungs, und es waren nur Jungs, waren freundlich – und wenn sie sprachen, verstand ich nichts. Natürlich kamen wir ins Gespräch. „Ja, ihr seid mehr. Ja, ihr seid lauter. Und ihr könnt mehr trinken. Aber am Ende holen wir den Pokal“, so meine Worte – und sie lachten. Dann wanderten wir zurück zum Busbahnhof, innen gelb grün gestrichen, und erkundigten uns nach der Abfahrtsspur. Nummer drei hieß es. Direkt dahinter wartete eine kleine Bahnhofsgaststätte auf Kundschaft, zwei ältere Herrschaften, vermutlich ein Ehepaar, versorgte uns unaufgeregt mit Café und Rissois. Um uns herum lauter Schotten, bis auf zwei bekannte Eintrachtgesichter. Und dann kam der Bus. Und mit ihm die Aufregung. Obgleich der Bus unsere Nummer auswies, wurden wir, und nicht nur wir, in einen anderen Bus geschickt, dessen Fahrer uns, und nicht nur uns, wieder auf den ersten Bus verwies. Ratlosigkeit allenthalben, es hob ein großes Geschnatter an, leichte Panik beschlich den einen oder die andere. Alles, was halbwegs offiziell aussah, wurde belagert und mit Fragen gelöchert, ein wildes Hin und Her – aber letztlich saß ein jede/r auf einem Platz – wir ziemlich weit vorne mit Blick aus dem Panoramafenster. Eine dreiviertel Stunde nach dem geplanten Start, setzte sich der Bus in Bewegung, alle mussten Maske tragen, die Hitze war erträglich und so rollten wir durch Faro, später auf die N 125 und dann auf die Autobahn. Wir glitten an der Ria Formosa vorbei, hie und da winkte uns ein Storch aus seinem Nest – und kurz hinter Monte Gordo passierten wir die spanische Grenze. Blühenden Bäume trennten die Fahrspuren der unterschiedlichen Richtungen, ich träumte lesend aus dem Fenster, Pia lauschte den Worten ihres Hörbuchs.

Gute zweieinhalb Stunden später fuhren wir in Sevilla ein, überquerten den Guadalquivir und landeten nach ein paar Schlenkern im Busbahnhof Plaza de Armas, der um einiges größer schien als sein Pendant in Faro. Als wir den Bahnhof verließen, fielen uns drei Dinge auf. Die lastende Hitze, die trinkfreudigen Schotten und die leuchtend lila Blüten der Jacarandabäume, welche die Allee vor dem Busbahnhof säumten. Unsere Unterkunft lag gute 900 Meter vom Bahnhof entfernt, wir schlenderten mit dem Navi in der Hand durch die verwinkelten Gassen, wenn sich Menschen auf den Straße zeigten, waren es Schotten, die bei Bier und Tapas in ihren blauen oder orangenen Trikots gut gelaunt den Tag begossen. Morgen findet wohl tatsächlich das Endspiel statt. Finale. Europacup. So ganz war diese Erkenntnis nicht bis in all meine Fasern durchgedrungen. Eintracht Frankfurt kann den so oft besungenen Europapokal nach Hause holen, das klingt so unwirklich. Europapokal ist der unlängst verstorbene Jürgen Grabowski. Ist Bernd Nickel, Fred Schaub, Bruno Pezzey. Sind krisselige schwarzweiß-Bilder aus irgendeinem Ostblock Land. Hölzenbeins Sitzkopfballtor gegen Bukarest. Aber doch nicht morgen? An den Balkonen der Wohnhäuser hingen die Fahnen von Betis Sevilla.

Wir erreichten die Unterkunft nach einer Viertelstunde, klingelten und harrten der Dinge. Aber es geschah nichts. Kein Summen, kein freundliches Hallo, nichts. Auch war kein Hotelschild über der Tür angebracht, einzig eine klickbare Nummerntafel, deren Code wir nicht hatten, verwies auf einen möglichen Einlass. So standen wir in der Glut von Sevilla und blickten uns fragend an. Wir hatten die Unterkunft ja vor über einem Jahr gebucht und in uns keimte die latente Angst, dass bei den derzeitigen astronomischen Preise unsere Zimmer womöglich anderweitig vergeben waren. Andererseits hatte uns vor ein paar Tagen eine schmucklose Nachricht erreicht, dass weitere Infos am Anreisetag folgen würden. Wir hatten unsere Ankunftszeit vermittelt – 14 Uhr, offizieller Check-in war eine Stunde später. Kaum wollten sich die ersten Sorgenfalten ins Gesicht schieben, ploppten drei Nachrichten in meinem Handy auf. Auf Spanisch. Aber wir konnten den News immerhin den Code entnehmen, den wir sofort ausprobierten. Mit leichtem Summen öffnete sich die Tür – und wir standen im angenehm kühlen Erdgeschoss eines zweistöckigen Hauses. Der Schlüssel für unser Zimmer hing am Schlüsselbrett, gegenüber wartete ein Küche mit allem auf, was das reisende Herz begehrt. Wasserkocher, Kühlschrank, sowie ein Tisch mit vier Stühlen. Sogar Kaffee und Tee stand bereit. Wir schleppten uns die Stufen nach oben, mit jedem Schritt wurde es wärmer, bis wir vor unserer Tür standen. Der Schlüssel passte, der Raum war klein, aber mit eigener Dusche, das Bett ordentlich gemacht – clean and tidy aber warm. Wir ließen das Fenster zur Straße geschlossen. Ein paar Schritte nebenan ging es auf die für alle Gäste offen stehende Dachterrasse. Sonnenschirme spendeten Schatten, während sich eine leere Wäscheleine über die Terrasse spannte. Hinten in der Ecke gab es eine Hand- bzw. Fußbrause. Alsbald lernte ich, den Wasserstrahl zunächst ins Leere laufen zu lassen, die ersten Strahlen waren durch die Sonne richtig heiß, genau wie die vom Licht beschienenen Bodenfliesen. Ich setzte mir in der Küche einen Tee auf und hockte mich dann oben unter den Sonnenschirm in den Schatten. Pia platzierte derweil ihre Kosmetika auf dem Nachttisch und setzte sich bald dazu. Olá Sevilla. Hier sind wir. Unten auf der Straße war es ruhig, die gegenüberliegenden Häuser hielten die Fenster geschlossen. Auf der Wäscheleine baumelte mein Eintracht-Tallinn-Schal. Einziger Wermutstropfen war der Verlust meiner roten Sonnenbrille, der sich schon in Portugal angebahnt hatte. Kaum in Sevilla angekommen, brach der Bügel endgültig ab. Die Brille flog in den Mülleimer – und ich hatte einen Auftrag: Mir genau die gleiche Brille zu besorgen. Zur Not für ein paar Euro bei einem der hoffentlich zahlreichen Schwarzhändler. Doch ganz so einfach sollte es nicht werden.

Gegen drei Uhr ging es frisch geduscht zurück auf die Straße. An allen Ecken und Enden wimmelte es von Schotten, tönten Gesänge durch die Gassen, die Stimmung war gleichwohl turbulent wie friedlich, hie und da erblickten wir einige Eintrachtler in weißen Shirts, so lautete auch diesmal das Motto der Fahrt: Alle in Weiß nach Sevilla. Wir werteten den Anblick des nahen Plaza de La Concordia als Zeichen des kommenden Sieges, zumal der Platz des Herzogs Victoria nur einen Steinwurf daneben lag. Wir schoben uns durch die Gassen, tranken unterwegs Wasser und Coke, die wir uns in den meist von Asiaten geführten kleinen Märkten besorgten. In jedem einzelnen schaute ich zudem nach Sonnenbrillen. Es gab sie in allen Farben und Größen – nur eben nicht in rot. So trotteten wir weiter, verirrten uns zwischen Geschäften mit geschlossenen Rollläden, Plätzen mit erhabenen Kirchen, Bars und Schotten. Ein Gassenwirrwarr, das dem ungeübten Auge stets gleich aussah und doch so verschieden schien. Es hieß, früher oder später landest du an der Kathedrale – und so kam es auch. Zuvor entdeckten wir noch eine Straßenbahn, lackiert in den Farben des Finales, garniert mit dem Wappen der Eintracht und dem der Rangers sowie einen silber glänzenden Uefa-Cup, der die Bummelnden zu Fotos verlockte. Hier kosteten die Sonnenbrillen auch nicht mehr fünf Euro sondern zwölf, was aber auch egal war, da es sowieso keine rote gab. Ich kniff die Augen zusammen und marschierte weiter. Mächtig wuchs die Kathedrale in die Höhe, schwarz-gelbe Pferdekutschen, die Gondeln Sevillas, warteten auf betuchte Touristen, um sich klappernder Hufe durch die Altstadt kutschieren zu lassen und uns zog es an den Fluss. Das touristische Pflichtprogramm war absolviert, jetzt versprachen wir uns auf der anderen Seite weniger Getümmel und im Schatten des Ufers vielleicht auch eine frische Brise. Unterwegs trafen wir Anjo, der uns freundlich begrüßte und nämliches erzählte. Ein paar Schritte weiter besorgten wir uns in einem Tourist-Office einen Stadtplan, den die gleichermaßen hübsche wie offenherzige Angestellte uns wortreich überreichte. Dabei hielt sie ihren recht offenen Busen kokett mit einer Hand notdürftig bedeckt, als sie sich zu uns herüber beugte. „Hier ist die Kathedrale,“ erklärte sie, „dort ein Museum und hier …“ fuhr sie kenntnisreich fort, während ich auch auf die Karte blickte, eine Brücke in unmittelbarer Nähe erkannte und mich freundlich bedankte. Sie lächelte. Pia auch. Rote Sonnenbrillen gab es aber auch hier nicht.

So trieben wir über die Brücke Puente de San Telmo auf die weniger belebte Seite des Flusses. Ein paar Schiffe lagen vor Anker, in einiger Entfernung entdeckten wir eines jener Kreuzfahrtschiffe, die ich aus tiefstem Herzen verachtete. Hier in Triana war von der hektischen Betriebsamkeit wenig zu spüren, die Einheimischen waren meist unter sich. Erst später realisierte ich, dass wir im Grunde nicht am Flussufer waren, sondern nur an einem innerstädtischen Seitenarm des Guadalquivir, was der Szenerie aber keinen Abbruch tat. An der Kirche Santa Ana rasteten wir im gleichnamigen Café, tranken einen Café con Leche mit Blick auf die Kirche, schlenderten ein paar Meter nach oben, wo zwei, drei Restaurants recht einladend winkten und wir beschlossen, des Abends hier erneut aufzuschlagen. Und so schlenderten wir weiter, erfreuten uns an den kalten Wasserdampf sprühenden Ventilen an den Sonnendächern der Restaurants, warfen hie und da einen Blick in verschiedene Läden, rauchten eine Cigarette am Fluss und marschierten über die überdachte Brücke Puente Cristo de la Expiración (El Cachorro) zum Busbahnhof weiter bis zur Unterkunft in der Calle Pascual de Gayangos. Wann jedoch welche Läden offen hatten, bleib uns bislang allerdings im Detail verborgen. Nur wenn sie geöffnet hatten, saßen dort Schotten und tranken.

In unserer Unterkunft selbst war es ruhig, auch die Dachterrasse hatten wir für uns. Ich brühte mir einen Tee, duschte meine Füße ab und setzte mich lesend in den Schatten. Cesaria Evora sang dazu über ihre Heimat, den Kap Verden. Das Lied, welches sich im Piscina Municipal de Montjuïc in Barcelona in mein Leben eingebrannt hatte.

„Dort oben am Himmel bist du ein Stern, der nicht glänzt

Hier im Meer bist du ein Sandkorn, das nicht nass ist

Verstreut in der Welt draußen – Nur Felsen und Meer“

Sodade. Sehnsucht.

Ganz behutsam drehte sich der Tag in den Abend, wir verließen unsere Unterkunft, die Straße, in der sie lag, führte schnurstracks zum Fluss und wir überquerten die dritte Brücke des heutigen Tages, bis wir wieder am Platz Santa Ana landeten und einen freien Platz unter freiem Himmel in der gut besuchten Taberna la Plazuela fanden. Um uns herum saßen vorwiegend Spanier in aufgeregte Gespräche vertieft, die Kellner waren flott und auf den ersten Blick ein wenig zu beschäftigt, sie wuselten umher, brachten unentwegt kleine Cervezas und große Tapas an die Tische, bis auch wir zufrieden unsere Bouquerones und Salat futterten. Hie und da bellte ein Hund. Kaum hatten wir bezahlt, entdeckten uns Hal und Monika. Hal organisiert seit Jahren die Schiffe auf den Europapokalfahrten, also setzten die beiden sich zu uns. Wir orderten eine erneute Runde Cerveza und unterhielten uns noch eine ganze Weile über Gott und die Fußballwelt mitten in Triana/Sevilla. Es war einer jener unbeschwerten Sommerabende in einer fremden Stadt, die so leicht vorüberzogen und doch nachhaltig in Erinnerung bleiben werden. Auf der anderen Seite des Flusses sangen die Schotten.

Der Rückweg führte uns in der Dunkelheit vorbei an der sich herrlich im Wasser spiegelnden Puente de Isabel II, die sich in weiten Bögen über den Fluss zog. Plötzlich flammten auf der innerstädtischen Seite der Brücke Feuerwerksraketen auf, Blaulicht funkte in die Finsternis und etliche Menschen, kleine schwarze Punkte in kurzen Hosen, flitzten die Straße entlang, die parallel einige Meter über dem Uferweg entlang führte. Einige dieser Punkte hüpften rennend von der Straße auf den Uferweg und humpelten gestützt von Kollegen mühsam weiter, die springenden Menschen erinnerten uns an Bilder von der Titanic. Nur dass es nichts ins Wasser ging, sondern auf den harten Betonboden des Uferwegs. Gute Besserung. Wir wanderten unseres Weges, entdeckten einen dieser britischen Plastikhelme, die – wie wir nun wissen, aus nicht flammbaren Material sind – und wanderten zurück in die Unterkunft. Jetzt konnten wir das Fenster öffnen, frische Nachtluft strömte ins Zimmer, während wir noch einen Absacker auf der Dachterrasse nahmen. Von der Straße drang ab und an die englische Stimme Googles zu uns, die fachgerecht einen Weg erklärte. Manch einer der Heimkehrer nutzte die ganze Breite der Straße, aber dafür war sie auch da. Dann fielen wir in die Betten und schlummerten einen traumlosen Schlaf. Der letzte Schlaf vor dem großen Finale in Sevilla. Mittlerweile konnten wir auch die digitalen Tickets, die uns die alle Daten unkontrolliert abgreifende App der Uefa aufgenötigt hatte, vitalisieren. Wir hatten es tatsächlich geschafft: Wir lagen am Abend des Endspiels in den vor über einem Jahr reservierten Betten in Sevilla. Eintracht Frankfurt international!

Teil I der Reise

Teil III der Reise

Teil IV der Reise