Früh am Morgen, es ist noch keine acht Uhr, verlasse ich meine Unterkunft in Litoměřice, werfe meinen Rucksack in den Dacia und nehme unten am Marktplatz noch einen Kaffee. Die zweite große Fahrt steht an, doch bevor ich nach Polen, nach Auschwitz fahre, hatte ich gestern beschlossen, noch einmal nach Theresienstadt zurückzukehren. Einige Orte hatte ich dort noch nicht gesehen – und wer weiß schon, ob und wann ich noch einmal hier her kommen werde.

Da die Brücke über die Elbe für Fahrzeuge gesperrt ist, bahne ich mir meinen Weg durch Gegend, tanke unterwegs und erreiche schließlich eine weitere Brücke, die mich in Richtung Terezin führt. Die letzten beiden Kilometer fahre ich die Strecke, die ich gestern noch gelaufen bin, sehe das Ortseingangsschild mit der skurrilen Empfangstafel. Ich fahre am Marktplatz vorbei, und halte noch einmal an den Gleisen an. Vielleicht symbolisiert dieser Ort am eindringlichsten die Geschichte der dunklen Jahren, die Weichenstellung für 150.000 Menschen. Einige wenige hatten Glück. Sie konnten nach der Befreiung des Lagers von diesem Gleis wieder nach Hause fahren. Doch welches zuhause? Die meisten Juden waren ermordet, Freunde, Verwandte – es gab sie nicht mehr. Andere waren geflohen, verstreut in der Welt. Die Habseligkeiten oder Besitztümer beschlagnahmt und was übrig geblieben war, womöglich durch die Bombennächte zerstört. Freiheit schmeckt von Zeit zu Zeit sehr unterschiedlich. Und es ist ein eigenartiges Bild, wenn ich unseren Dacia direkt neben den Gleisresten parken sehe.

Am 11. Februar 1945 hatte einer der letzten Züge Frankfurt in Richtung Theresienstadt verlassen.

Die SS-Männer schieben eine Waggontür nach der anderen mit lautem Knall ins Schloss und verschließen sie mit einem großen Hebel. Jedes Mal, wenn eine Tür zufällt, hören wir die Menschen von innen an die Bretter schlagen und laut weinen. Alle um mich herum weinen. Als der Wagen, in dem Mama und Helmut sind, an die Reihe kommt, schaut Helmut noch einmal aus der Tür und ruft mir ganz laut zu. „Wir kommen wieder.“ (Lilo Günzler, Endlich reden, Frankfurt 2009)

Am 5, Mai 1945 hatten die letzten SS-Männer Theresienstadt verlassen. Im Ghetto herrschten verstärkt durch die von den Nazis „evakuierten“ sprich auf die Todesmärsche geschickten und nun hier eingepferchten Juden der östlichen Vernichtungslager weiterhin katastrophale hygienische Zustände. Diejenigen, die nicht auf den Wegen krepierten, waren von Krankheiten zerfressen, ausgemergelt, kaputt. Flecktyphus verbreitete sich. Noch 1945 hatten die Nazis begonnen, in Theresienstadt eine eigene Gaskammer zu bauen, die jedoch nicht in Betrieb genommen wurde. Am 10. Mai 1945 übernahm die Rote Armee das Ghetto in Terezin. Im Juli 1945 erreichte ein Junge Frankfurt am Main.

Ich erkannte ihn nicht wieder. Er war so dünn, so zerbrechlich. Sein Kopf war winzig im Vergleich zu seinem abgemagerten Körper. Stumm stand er in der Tür. (s.o.)

An ihn dachte ich oft während des gestrigen Tages, Nach 1945 ist Helmut großer Fan der Frankfurter Eintracht geworden. Gesprochen hat er über seine Zeit im Lager nicht.

Wenige Meter hinter den Gleisen harren heute zwei weitere Gebäude auf die wenigen Besucher. Ich kann direkt davor parken, denn wie gestern so bin ich auch heute der einzige Besucher. Linker Hand befindet sich das Kolumbarium, gegenüber die Totenkammer. Die Toten des Ghettos wurden oft nachts mit Kutschwagen aus dem Lager gezogen, eine Tätigkeit, die von den Lebenden übernommen werden musste. In der Totenkammer wurden die Körper zur letzten Ruhe vorbereitet, mit Fußzetteln gekennzeichnet und in hölzerne Särge gelegt. Bis September 1942 wurden die Verstorbenen beerdigt. Ab 1942, der Platz reichte nicht mehr aus, wurden sie im etwas weiter draußen liegenden Krematorium verbrannt, die Asche in papierne Urnen gefüllt, die im Kolumbarium gelagert wurden. Bis 1944 beherbergte das Kolumbarium weit über 20.000 dieser Urnen. Als sich die Niederlage der Nazis Ende 1944 abzeichnete, begannen die feigen Hunde, die Spuren der Vernichtung zu tilgen. Sie vergruben die Asche entweder bei Litoměřice, den übergroßen Rest jedoch schütteten sie in die Eger, eine letzte Demütigung der Menschen, die hier auf Grund der unmenschlichen Bedingungen gestorben sind. Unmenschliche Bedingungen, gemacht von Menschenhand, gemacht von den deutschen Nationalsozialisten.

Heute dient das Kolumbarium als Gedenkstätte, Nachfahren der Überlebenden gedenken der Angehörigen, einzelne Vertreter von Orten aus denen Juden nach Terezin deportiert wurden, finden Worte der Reue auf an die Wände montierten Tafeln. Frankfurter Worte konnte ich nicht entdecken.

Mein letzter Weg führt mich aus dem Ort hinaus. Ghettoinsassen fanden diesen Weg ausschließlich in einem hölzernen Sarg. Es dauert nicht lange, bis ich den Parkplatz vor dem Krematorium erreiche – und es ist wenig verwunderlich, dass unser Fahrzeug der einzige parkende Wagen dort ist. Von dort aus geht es zu Fuß weiter, entlang an endlosen Reihen von jüdischen Gräbern, an deren Rand eine übergroße Menora wacht. Begraben wurden hier 9.000 Menschen.

Nebenan steht noch heute das gelbe Krematorium, erbaut von den Häftlingen selbst. Vor dem Krematorium steht eine Informationsmaschine, man dreht an einer Kurbel, bis ein Ton erklingt, sodann kann man per Knopfdruck aus drei Texten und verschiedenen Sprachen wählen, um sich über die Geschichte des Ortes zu informieren. Während ich kurbele und höre, beobachtet mich der Wächter des Krematoriums. Als ich wenig später den Ort betrete, scheint er erfreut zu sein, dass ich mich für die Geschichte interessiere, er drückt mir einen Zettel in die Hand und versorgt mich auf tschechisch-deutsch-franzenglisch mit Informationen. Unterdessen überholt mich eine Schülergruppe, geführt von einer englisch sprechenden Frau, die eindringlich darauf hinweist, dass Fotografieren zwar erlaubt sei, unter keinen Umständen jedoch Bilder mit dem eigenen Konterfei. Selfieverbot. Recht so.

Das Krematorium besteht im Grunde aus zwei sich unterscheidenden Räumen, zu einen der Ort der Sezierung, nebenan Informationstafeln, zum anderen der größere Raum mit den Öfen. Um Material zu sparen, wurden die Verstorbenen nur auf die hölzerne Unterseite des Sarges gelegt und ins Feuer geschoben, die restlichen Teile des Sarges wurden wieder verwendet. Auch die Opfer der kleinen Festung wurden hier eingeäschert, an die 30.000 Menschen wurden von den Flammen gefressen.

Noch bevor ich das Gebäude verlasse, fängt mich der Wächter ab, er ist froh, mit jemandem reden zu können, erzählt Geschichte und Geschichten, so auch vom Hochwasser 2002, welches nicht nur die Elbe, sondern auch die Eger erfasst hatte und zahlreiche Orte in Theresienstadt samt Dokumente schwer beschädigt hat. Einige dieser Dokumente wurden später in Dresden gefunden, das Wasser hatte sie bis dorthin geschwemmt. Den große Gedenkstein aber am Rande des Friedhofs, tonnenschwer, hatte ein Geschäftsmann aus Russland gestiftet. Eingebettet in eine metallene Konstruktion ist er nicht nur das Symbol der jüdischen Trauer. Wenn man aus der Luft auf das Werk schaut, erkennt man, Stein und Metall zusammengenommen, die Form des Davidsterns.

Weiter hinten erkennt man den Baum der Theresienstädter Kinder, gepflanzt von den Kindern des Ghettos, später von überlebenden Kindern ausgegraben und an diese Stelle am Friedhof verpflanzt. 2005 ist er eingegangen, die Überreste des Ahornstammes sind jedoch als Denkmal erhalten geblieben, davor wächst ein neues Bäumchen in die Höhe. Weiter hinten laufe ich an den Erinnerungssteinen für die Opfer der jeweiligen Nationen vorbei.

Es ist spät geworden, ich muss los. Vor mir liegen über 500 Kilometer Fahrtstrecke, eine weitere Reise in unbekanntes Terrain. Ich laufe zurück zum Auto. Nun parkt hier ein weiterer Wagen. Und seltsam ist: Er kommt auch aus Frankfurt.

Während ich langsam Theresienstadt in Richtung Prag verlasse, realisiere ich, dass der erste Part meiner Reise soeben zu Ende geht. Tausende Eindrücke umwirbeln mich, Gedanken purzeln umeinander. Während ich fahre, verabschiedet sich mein Navi, die Lizenz ist abgelaufen, ich bleibe leicht orientierungslos zurück. Und fahre weiter. Nach Auschwitz.

Teil I

Teil II

Teil III