Ein Sammelsurium aus dem angebrochenen Leben

Nordkorea – Camp 14

Eine ergreifende und tiefgehende Dokumentation über die Arbeitslager in Nordkorea liefert der Film Camp 14 von Marc Wiese, der den Flüchtling Shin Dong-hyuk zwei Jahre mit der Kamera begleitete und dessen Geschichte erzählen ließ. Shin Dong-hyuk wurde 1982 im Arbeitslager Camp 14 geboren und konnte 2005 über China nach Südkorea flüchten. Dazwischen liegen unfassbare Jahre, unfassbare Erfahrungen eines Menschen, dessen Leben in einem Gefängnis innerhalb eines Gefängnisses gelebt wurde – und selbst dort noch in einem Gefängnis. 200.000 Menschen sollen weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit in den Lagern vegetieren.

Wir wissen wenig über das Leben in Nordkorea und noch weniger aus den Arbeitslagern des Landes, dessen Führung die Existenz solcher Lager verneint. Glaubt man den Schilderungen Shin Dong-hyuks – dessen Angaben nach seiner Flucht von südkoreanischen Behörden geprüft und bestätigt wurden – und es gibt wenig Anlass, nicht zu glauben, zumal im Film auch ein ehemaliger Wärter und ein ehemaliger Offizier, die gleichfalls das Land verlassen haben, ähnliches berichten, so drängen sich unvermeidlich die Bilder der Konzentrationslager der Nationalsozialisten ins Hirn, die Gewalt, die Kontrolle, der unweigerliche Tod. Alleinstellendes Merkmal der KZ’s bleibt jedoch der Holocaust, die Massenvernichtung in den Gaskammern.

Shin Dong-hyuk wird 1982 im Camp 14 geboren, seine Eltern sind sich erst im Lager begegnet, wurden als Belohnung für Arbeitsleistung verheiratet – doch als emotionale Familie in unserem Sinne können wir dies nicht begreifen. Vielleicht können wir gar nichts begreifen, denn der Film endet mit der Sehnsucht Shin Dong-hyuks nach dem Lager, welches er als Heimat begreift, trotz Folter, trotz einer wie auch immer gearteten Schuld am Tod seiner Mutter, seines Bruders, deren vermeintliche Fluchtpläne er an die Wärter verraten hatte, wie es das Leben dort vorsah. Wie es normal war für jemanden, dessen Lebenseindrücke ausschließlich aus den Erfahrungen des Lagers gespeist wurden. Wie es normal war, dass ein Mädchen im Alter von sechs Jahren zu Tode gefoltert wurde, da es fünf Maiskörner in der Hosentasche verborgen hatte. Welches Leben sollte man sonst kennen?

Jahrzehntelang das gleiche Essen, Maisbrei und Kohlsuppe, drei Mal am Tag, und immer zu wenig. Jeden Tag. Dazu Zwangsarbeit im Kohlewerk. Die Wächter sehen die Gefangenen auf einer Stufe mit Fliegen. Eher geringer. Sie töten, sie quälen, sie foltern, sie haben freie Wahl. Sie schwängern Insassinen und schneiden ihnen den Fötus aus dem Bauch, hängen die Frauen auf. Wenn ehemalige Wärter erzählen, kommt das Grauen auf leisen Sohlen. Doch kann man sie moralisch verurteilen, die Wärter? Auch sie leben ein Leben in ihrem Rahmen und kennen es nicht anders. Wie wird einst die Konfrontation mit den Opfern aussehen? Die auf eine bestimmte Art und Weise auch Täter sind, wie die Wärter Opfer sind. Wir sind womöglich borniert, gefangen in unseren Vorstellungen. Welche sollten wir auch sonst haben? Es gibt keinen Vergleich.

Shin Dong-hyuk spricht heute über das Lager, hält Vorträge in aller Welt, wenn er über sich spricht, stockt er. Es ist nicht nur die Erinnerung, die zurückkommt, die Wut, wenn er seine Narben sieht. Es ist die Seele, die in der jetzigen Welt keine Heimat findet. In Südkorea ist die Selbstmordrate hoch, alles dreht sich ums Geld. Im Lager gab es kein Geld. Es gab nur einen unbändigen Überlebenswillen – trotz der Tatsache, dass nahezu alles verboten war und mit dem Tod bestraft wurde. Oder vielleicht genau deshalb. Es braucht nicht viel, um ins Lager zu kommen. Wer sich mit Zeitungspapier eine Zigarette dreht, auf dem ein Konterfei des Führers abgebildet ist, landet im Lager. Wer bei Namensnennung der Führer das Wort Genosse vergisst, kommt ins Lager.

Shin Dong-hyuk beobachtet durch ein Fenster, wie sein Bruder, der aus dem Zementwerk geflohen ist, mit seiner Mutter spricht. Die Mutter hatte von ihren Lebensmittelrationen ein Weniges abgezweigt, gibt dies dem Bruder, der fliehen muss. Shin Dong-hyuk ist getroffen. Warum bekommt der Bruder zu essen, nicht er selbst? Da zudem das Geheimhalten von entdeckten Fluchtplänen mit dem Tod bestraft wird, verrät er die Pläne an seinen Lehrer, hofft, Klassensprecher zu werden, mehr zu essen zu bekommen. Er ist damals 14. Die Bilder, die wir sehen, sind gezeichnet, aus der Erinnerung. Es gibt so gut wie kein Filmmaterial aus Nordkorea, geschweige denn aus den Lagern.

Er bekommt nichts. Außer Folter. Der Lehrer meldet den Vorfall als seine eigene Entdeckung, Shin Dong-hyuk wird verhört, gefoltert, ein Feuer wird unter seinem Rücken angezündet. Bleibt ein halbes Jahr im Gefängnis, bis ihm geglaubt wird. Die letzte Zeit verbringt er in einer Zelle mit einem älteren Mann, der ihn pflegt. Bis dahin wusste er nicht, dass sich Menschen Gutes antun können. Als er entlassen wird, trifft er seinen Vater wieder, der gleichfalls im Gefängnis saß. Sie fahren mit verbunden Augen zu einem Platz, dem Platz der Hinrichtungen. Doch sie werden nicht hingerichtet. Sie stehen in der ersten Reihe und sehen, wie der Bruder erschossen und die Mutter gehenkt wird. Shin Dong-hyuk nimmt dies emotionslos zur Kenntnis. Oder aber: Er ist wütend auf seine Mutter. Die erste Hinrichtung sah er im Alter von vier Jahren. Man lernt nicht, dies in Frage zu stellen.

Später arbeitet ein älterer Mann mit ihm zusammen, einer, der von draußen kommt und davon erzählt. Unter Lebensgefahr davon erzählt. Von gebratenen Hähnchen, gekochtem Fleisch. Es geht nicht um Freiheit, es geht ums Essen. Wenn es im Lager Fleisch gab, dann Ratten, die sich in die kargen Behausungen verirrt hatten. Ratten haben weiche Knochen, sie aßen sie vollständig.

Sie wollen an einem regnerischen Tag fliehen, sein Partner klettert über den elektrischen Zaun, wird von einem Stromschlag tödlich getroffen, der Körper aber drückt die Drähte nach unten, Shin Dong-hyuk krabbelt hindurch, krabbelt über den Leichnam ins Freie, auch hier Verletzungen, die er nicht spürt. Er sieht Farben. Unfassbare Farben. Stiehlt Lebensmittel, Kleidung und kommt erstmals mit Geld in Berührung. Über China schlägt er sich nach Südkorea durch. Doch frei, frei ist er nicht.

Auf die Frage, was er aus dem Lager vermisst, antwortet er: Mein unschuldiges Herz. Wenn die Grenzen fallen sollten, will er zurück nach dort, will von dem leben, was er anbaut. Doch wie sollen die Grenzen fallen? Das Land ist abgeschottet, die Lager sind abgeschottet, man kommt kaum hinein und schon gar nicht hinaus. Die Kontrolle ist allgegenwärtig wie der Tod, wie der Hunger, wie die Denunziation. Wie die Führer.

Zurück bleibt die traurige Wut, hilflos zu sein beim Anschauen dieser Bilder – mit unserer eigenen Geschichte im Genick. Viele der überlebenden KZ-Insaßen wussten nach der Befreiung 1945 nicht wohin. Wie ein Nordkorea in Zukunft aussehen kann, vermag ich nicht zu sagen. Das Elend der Arbeitslager aber muss aufhören. Sofort.


Das Eingangsfoto ist ein Pressefoto der Engstfeld Film GmbH
. Der Film ist derzeit noch in der Mediathek zu sehen.

4 Kommentare

  1. HeinzGründel

    Das ist erschütternd.

    • Beve

      ja heinz, das ist es.

  2. Kid

    Brutal. So brutal, dass es sprachlos macht. Dass dürfte auch ein/der Grund sein, dass dein Text bisher vergleichweise wenig Kommentare bekommen hat. Seltsam, dass Unmenschliches immer von Menschen kommt. Und „der Mensch ist des Menschen Wolf“ tut dem Wolf Unrecht.

    • Beve

      brutal ist sogar noch untertrieben. über nordkorea ist ja nicht viel bekannt, ab und an ein paar bilder, dazu die inszenierung der führung inklusive der todesstrafe für konkurrenten. aber die situation in den arbeitslagern kannte ich gar nicht, die unfassbare anlehnung an die kzs der nazis. da das land aber weder über öl verfügt noch über strategische vorteile, kümmert sich niemand darum. flüchtlinge, die in china entdeckt werden, werden sogar wieder zurück geschickt. hilfloser zorn.

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