Freitagmorgen gegen 10 Uhr saust eine S-Bahn aus Frankfurt Richtung Friedrichsdorf, erstmals seit Langem habe ich mal wieder eine Fahrt über eine Mitfahrzentrale gebucht, Abfahrt um 11 am Friedrichsdorfer Bahnhof. Frankfurt – Tübingen, einfach. Zurück geht es dann mit Flo, der in Tübingen aufgewachsen ist und später nachkommen wird. So lautet der Plan. Und so hat er sich dann auch erfüllt.

Neben mir und der Fahrerin sind noch zwei weitere Mitfahrer unterwegs, wir sind allesamt pünktlich und rollen mit einem fein ausgebauten VW T5 bei Rosbach auf die Autobahn. Mit Johnny Cash aus den Lautsprechern und bei überschaubarem Verkehr verläuft die Fahrt unaufgeregt, nur kurz vor Tübingen schüttet es wie aus Eimern, in Tübingen selbst aber ist es trocken und sommerlich warm. Hinter dem Bahnhof ist meine kurzweilige Fahrt zu Ende, das Wochenende beginnt. Oder besser, hat schon begonnen und ich bin mittendrin.

Was fällt einem alles zu Tübingen ein? Hölderlin natürlich, der Mann mit der Aura des umnachteten Genies, die letzten gut 36 Jahre seines Erdendaseins in einem Zimmer des jetzigen Hölderlinturmes an der Neckarfront lebend. Natürlich ist der Hölderlinturm just dann eingerüstet, als ich ihn von der blütenbehangene Neckarbrücke aus erspähe. Drunten stochern die Kähne im Fluß, das gehört hier zum guten Ton. Hoch oben thront das Schloss, unten auf den Stufen zur Stiftskirche hocken eisfutternd Groß und Klein – und der Geist von Mörike, der hier ebenso gegenwärtig ist wie der Ludwig Uhlands. Tübingen, Stadt des Geistes und des romantischen Ambientes. Stadt der Radfahrer, der Studierenden, der Touristen. Auf dem Marktplatz vor dem historisch-majestätischen Rathaus werden die letzten Reste des Marktes zusammen gekehrt, hier lässt es sich gut durch die Gassen treiben. Später, auf der Neckarinsel, der Platanenallee, treiben die Stocherkähne wiederum an mir vorbei. Findige Stocherer schieben die Kähne durch den Neckar, erzählen Geschichten der großen Geister, weiter hinten schwimmt eine Frau im Fluss. Ich sitze am Ufer, beobachte die Touristen, die bei einsetzendem Getröpfel in den Kähnen sitzend ihre bunten Regenschirme aufspannen, zuweilen gar singen, man möchte Gedichte schreiben an diesem Ort, die Neckarfront im Blick. Hinter mir wird ein Haus abgerissen, das tackern des Abrissbaggers will so gar nicht poetisch klingen, aber man kann nicht alles haben. Dies wusste wohl auch schon Hölderlin, als er schrieb: „Denn sie, die uns das himmlische Feuer leihn, die Götter schenken heiliges Leid uns auch, drum bleibe dies: Ein Sohn der Erde schein ich; zu lieben gemacht, zu leiden“.

Hölderlin liest sich etwas altbacken verschwurbelt, aber gut – der Preis war, wie gesagt, 36 Jahre im Turm bei geistiger Umnachtung, wobei die neuere Forschung sagt, dass Hölderlin gar nicht so umnachtet war, sondern nur eine Rolle gespielt hat. Cleveres Kerlchen in einer Welt, die schon damals keine einfache war. Und wenn man obige Gedichtzeilen so ließt, dann könnte man meinen, es geht um die Frankfurter Eintracht – die ja nun am Samstag in Ulm spielt. Der amtierende Pokalsieger beim Viertligisten. Zu lieben gemacht, zu leiden.

Später trinke ich in der Altstadt beim Boulanger ganz prosaisch ein Bier, denke an Ernst Bloch, ein weiterer großer Geist, der 1977 in Tübingen verstarb und dessen Prinzip Hoffnung zwar von kaum jemandem gelesen wurde, 1600 Seiten haben es in sich, gleichermaßen aber einen unsterblichen Satz birgt: „… so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ Das können sich vor allem die heimatbesorgten mal hinter die Ohren schreiben.

Ja, der Geist ist hier präsent. Ganz irdisch aber funkt Flo an, dass er nun auch in Tübingen gelandet sei – und zu dunkler Stunde sitzen wir in einem Biergarten am Neckar, bis der Regen uns ins Auto spült und wir gen Wurmlingen fahren, bekannt durch die Wurmlinger Kapelle, die hoch über den Weinbergen thront und sogar von Ludwig Uhland besungen wurde. Vom Balkon aus sehen wir sie in der Nacht still oben am Berg – und wir sehen auch, wie am Himmel ein Feuerball verglüht, von dem niemand weiß, was es war. Uhland aber besang die Kapelle leicht melancholisch mit folgenden Worten:

Droben stehet die Kapelle,
Schauet still ins Tal hinab.
Drunten singt bei Wies‘ und Quelle
Froh und hell der Hirtenknab‘.

Traurig tönt das Glöcklein nieder,
Schauerlich der Leichenchor,
Stille sind die frohen Lieder,
Und der Knabe lauscht empor.

Droben bringt man sie zu Grabe,
Die sich freuten in dem Tal.
Hirtenknabe, Hirtenknabe!
Dir auch singt man dort einmal.

Vergänglich sind wir alle, was bleibt ist die Erinnerung und ein Blick in die Nacht. Und ein Blick auf die Bilder, derweil ich feststelle, dass aus irgendeinem unerfindlichen Grund der Modus der Kamera verstellt war und alle Bilder aussehen, wie gemalt. Und das sieht nicht aus wie gemalt, es ist zum Haareraufen.

Der nächste Tag bewegt sich allerdings zaghaft weg von Philosophie und Literatur hin zum bevorstehenden Spiel SSV Ulm gegen Eintracht Frankfurt. In einer Tübinger Metzgerei erstehe ich nach längerem Warten 100 Gramm Bierschinken. Die junge Dame hinter der Wursttheke wägt sorgfältig ab. 72 Gramm sind zu wenig, 132 Gramm zu viel, bei 104 Gramm entscheidet sie auf: Einpacken. Kostenpunkt: 2 Euro 4 Cent. In meiner Tasche lümmeln drei Euromünzen und zwei Cent und ich biete ihr zwei Euro zwei an oder drei Euro. Natürlich nimmt sie die drei Euro und sucht im brechend vollen Laden 96 Cent zusammen, die sie mir als Wechselgeld heraus gibt. Schwaben.

Jetzt aber sind wir auf der B28 und rollen gepflegt über die Landstraße, über die Schwäbische Alb. SWR1 spuckt an Musik das beste aus den letzten Jahren aus, zumindest was sie dafür halten. Über Metzingen, Bad Urach und Blaubeuren fahren wir ohne nennenswerte Hindernisse Richtung Ulm. Wälder, Hügel, Weinberge, Felsen, schön ist es hier, man könnte verweilen – allein die Eintracht ruft. In Ulm selbst verweist erstaunlich wenig auf die kommende Erstrundenpartie im DFB-Pokal. Wir parken den blauen BMW problemlos hinter der Donau in Neu Ulm und spazieren runter zum Fluß. Auf der gegenüberliegenden Seite marschieren die Frankfurter Ultras, von der Polizei eskortiert, Richtung Stadion. Wir aber treffen in einem Biergarten Flos Freunde, das Bier zum Mitnehmen in Ein-Liter-Bügelflaschen und wandern wenig später Richtung Donaustadion. Echte Flutlichtmasten ragen in den heißblauen Sommerhimmel, wir jedoch müssen statt des geraden Weges einmal das Stadion umrunden. Absperrgitter, Polizei. Hurra, hurra, die Frankfurter sind da. Immerhin ist der Einlass kurz und schmerzlos, die Kurve aber ist schon recht voll. Wir schieben uns relativ weit nach links oben, schwitzen wie die Großen und harren der Dinge, die nun kommen werden. Übermütig ist hier niemand, Skepsis überwiegt.

Mit dem Einlaufen halten wir Doppelhalter in die Höhe, vorne der Adler, hinten die 12, bei manchen auch umgekehrt, Rauch steigt auf und dann geht es los. Neukeeper Rönnow fliegen die Bälle nur so um die Ohren, nur ein weitere Neuzugang spielt wie schon gegen die Bayern im Supercup von Beginn an, Torro im Mittelfeld. Der einzige Wechsel zum vergangenem Spiel lautet Jovic für Fabian, der nun in der Trainingsgruppe 2 gelandet ist und gar nicht erst mitreisen durfte. Kurz wird Präsident Peter Fischer von der Kurve gefeiert, dann wird ein bisschen rumsupportet. Die Kurve ist ordentlich gefüllt, aber noch geht es, die Hütte ist ausverkauft, ein Ulmer Festtag, der zur Feier des Tages von einer Drohne über unseren Köpfen gefilmt wird. Auf dem Rasen ist kein Klassenunterschied zu erkennen, die Eintracht erspielt sich ein leichtes Übergewicht, kommt zu Chancen, aber auch der SSV setzt die Abwehr der SGE unter Druck, hält bis zum Pausenpfiff das nullnull. In der Halbzeit kämpft sich Flo zum Getränkestand vor, während ich durch den Zaun von oben das Treiben vor dem Getränkestand beobachte. Traugott, dessen Hobby das Fotografieren von Eintrachttattoos ist, hat alle Hände voll zu tun. Er schiebt die Waden seiner Protagonisten ins rechte Licht, schickt schattenwerfende Zuschauer zur Seite und füllt sein Album. Basti im schwarzweißen Rebic-Trikot schiebt sich derweil am Getränkestand elegant nach vorne, auch Flo kommt voran, so vergeht die Zeit, bis zum Anpfiff der zweiten Halbzeit trotz sengender Sonne recht geschmeidig.

Diese zweite Halbzeit aber lässt den Pokalsieg der Eintracht endgültig Geschichte werden, sie macht aus dem „amtierenden Pokalsieger“ den „entthronten Pokalsieger“. Kurz nach Wiederbeginn nutzen die Spatzen, wie der Volksmund ja die Ulmer nennt, einen Freistoß zur Führung. Fortan fühlen sich die Ulmer Fans wie die Frankfurter jüngst in Berlin und wir gucken blöd. Minute um Minute verrinnt, die Eintracht versucht sich in einem Fußball, der von drückender Überlegenheit so weit entfernt ist, wie es Hölderlin von seinem je Turm gewesen ist. Nämlich gar nicht, im Gegenteil. Und mit jeder gespielten Minute dräut die Gewissheit, dass der Titelverteidiger sich schon in der ersten Runde vom Wettbewerb verabschieden wird. Das 2:0 für Ulm fällt zu einem psychologisch unglücklichem Zeitpunkt, nämlich während des Spiels. Da ist es schon recht ruhig in der Kurve. Zwei turbulente Pokaljahre neigen sich dem Ende entgegen, daran ändern auch die Wechsel nichts mehr. Weder Blum, noch Müller, noch Paciencia können dem Spiel die Wende geben, auch wenn letzterer noch kurz vor Schluss zum 1:2 trifft. Obgleich noch vier Minuten zu spielen sind, jubelt niemand im Block.

Mit dem Schlusspfiff versuchen die Ulmer den Platz zu stürmen, werden jedoch von der einlaufenden Polizei eher unwirsch daran gehindert. Der Stadionsprecher freut sich, wir schauen bedröppelt aus der Wäsche. Erste gebuchte Hotelzimmer fürs Finale werden von Frankfurter Seite storniert – zumindest von denjenigen, die nicht bei O2 sind. Wer bei O2 ist, wie ich zum Beispiel, erkennt, dass ein vor zwei Stunden abgesendeter Tweet erst weit nach Spielende seinen Weg ins Netz findet. Das ist natürlich albern und wird entsprechend auch (nicht) gewürdigt. Einer der Ulmer hat es jetzt bis vor unsere Kurve geschafft und jubelt provozierend vor der UF. Glück hat der junge Mann, dass ihn die Ordner überwältigen, bevor er in die Fänge der Ultras gerät. Entweder hat er Eier dick wie das Prinzip Hoffnung oder er ist wahnsinnig. Wahrscheinlich beides.

Machen wir uns nichts vor, in dieser Zusammensetzung ist die Eintracht nicht bundesligatauglich. Gut, die Saison ist lang, hinten kackt die Ente – wer aber Boateng, Hradecky, Mascarell, Meier und Wolf verliert, Stendera und Fabian verbannt, derweil die Neuzugänge es kaum in den Kader gegen einen Viertligisten packen, der wundert sich dann am End auch nicht wirklich. Missmutig schleichen wir  nörgelnd zum Auto und tuckern alsbald wieder Richtung Schwäbische Alb. Ein Ulmer Kind provoziert uns beim Vorbeifahren, hat aber nicht mit der roten Ampel gerechnet, ich bin kurz davor, den Racker zu vermöbeln. Mit dem Münster im Rücken verlassen wir Ulm, die Nachrichten verkünden alles naslang die Sensation des Tages. Ich hasse Radio.

Ein kurzer Ausflug zum Blautopf bei Blaubeuren lässt kurz den Schmerz vergessen. Wir parken am Schwimmbad und suchen die wunderliche Quelle auf, das Wasser scheint von reinstem Blau, Mythen und Legenden ranken sich um diesen märchenhaften Ort – und da sind wir schon wieder bei Mörike. Und der schönen Lau. Wir verweilen eine Zeitlang an dem verwunschen Wasserplatz, der neben Mörike auch Drehbuchautoren des Tatort inspiriert hat oder vielmehr Felix Huby, dessen Krimi Bienzle und die schöne Lau für die ARD verfilmt wurde. Später sitzen wir bei Schwabentopf und Rostbraten in einem Dorf in Schwaben und sind immer noch aus dem Pokal raus geflogen.

Der nächste Tag bringt eine Wanderung vorbei an Streuobstwiesen und Weinberge hoch zur wohlbekannten Wurmlinger Kapelle, welche von einem Friedhof gesäumt wird. Mit jedem Schritt entschleunigt die Zeit, Höhenbilder, wohin das Auge reicht. Doch glaubt nicht, dass das Spiel vergessen ist. Später holen wir noch Flos Frau Mama und deren Freund ab; auf uns wartet eine schwäbische  Mahlzeit im Schwärzlocher Hof in Tübingen. Bei Mostbraten und Leberkäs trinken wir Most aus einem Krug, wobei die Frankfurter sagen würden: Äbbelwoi aus dem Bembel. Ja, so etwas in der Art gibt es hier auch. Nur die Formulierungen lassen zu wünschen übrig.

Da wir noch Zeit haben, beschließen wir einen Ausflug zum wildromantischen Steinbruch und zum Märchensee bei Rottenburg. Am See, der wie durch Wunderhand einst über Nacht entstanden ist, fliegen Libellen umher wie gestern noch die Drohnen. Zu guter Letzt folgt noch ein Aufstieg auf den nagelneuen Schönbuch Turm, den Flo neulich entdeckt hat. Ein gewaltiger Aufstieg in schwindelnde Höhen wird mit einem wunderbaren Rundumblick über Schönbuch belohnt, dann geht es mit dem blauen BMW zurück auf die Autobahn. Einer Vollsperrung bei Heilbronn weichen wir aus, indem wir durch Heilbronn selbst fahren – und so eine Autobahnvollsperrung scheint auch der einzige Grund zu sein, durch Heilbronn zu fahren. Wilde Romantik geht anders und Uhland wird gewusst haben, weshalb er in Tübingen und nicht in Heilbronn geboren wurde. Wobei wir fairer Weise sagen müssen, dass es hier vor den Bombennächten des zweiten Weltkrieges durchaus charmanter ausgesehen haben dürfte. Wie auch immer, alsbald erreichen wir wieder den Highway, spulen die restlichen Kilometer runter und landen bei einbrechender Dunkelheit wieder im Herzen von Europa. Ich verabschiede mich von Flo und erklimme die Treppen hoch zu Pia. Zu erzählen gibt es ja eine Menge Schönes. Nur halt nicht vom Fußball, das war dann doch eher schaurig. Und wer weiß, womöglich werden Pia und ich eines Tages auch durch Tübingen schlendern, im Neckar stochern und vielleicht sogar Spätzle essen. Handgeschabt. Das habe ich sehr zum Verdruss von Flo diesmal nicht gemacht. Aber er ist dennoch ein prima Reiseführer. Danke Flo, für die Tübinger Tage!