Eigentlich begann alles letzten Freitag, als wir beim Album-Release von Revolte Tanzbein im Sommergarten der Batschkapp waren. Ein vergnüglicher Abend bei Balkan-Ska-Musik und einigen Schöppchen. Tanz hart heißt die neue Platte und die Gäste durften sogar tanzen. Aber nur am Tisch. Da war schon die Security vor. Zumindest bis kurz vor Ende. Dann brachen ein paar Dämme. Aber keine Sorge. Alles safe.
Einige Wochen zuvor hatte ich neue Scheibe geordert – und da ich Abholung im Laden in Sachsenhausen vereinbart, die Jungs und Mädels zwar die Platten wie die CDs wie die Großen verschickt hatten, wurden die paar, die wie ich das Material im Laden abholen wollten, glatt vergessen. Dies konnte ich am Abend des Release korrigieren und ging als stolzer Besitzer einer neuen CD, sowie eines fabelhaften T-Shirts nach Hause. Empfehlenswert, lege ich euch wirklich ans Herz. Also die Musik. Und da ich die erste CD der Revolte nur über Spotify höre, besprang mich der Gedanke, diese ebenfalls haptisch zu erwerben. Alsbald klickte ich mich durch das digitale Bestellprocedere, bis ich auf die schöne Idee kam, einfach mal selbst im Kaufrauscher in Sachsenhausen vorbeizufahren, um sie dort vor Ort zu kaufen. Was soll ich Geld für Porto rausschmeißen, wenn ich bei schönem Wetter auch unterwegs sein kann? Rad oder Roller hieß die Frage – und da ich keine Tasche mitschleppen wollte, entschied ich mich für den Roller. Und da dieser sich entschied, anzuspringen, tuckerte ich Ampel für Ampel runter nach Sachsenhausen, parkte die Kiste in der Wallstraße und wanderte in die Elisabethenstraße. Natürlich war das Ladengeschäft geschlossen, hätte ich auch vorher checken können, aber was soll’s. Hinten in der Dreieichstraße ist ein kleiner Thai, Ran Maruay. Der Inhaber hatte früher den Laden an der Ecke Paradiesgasse/Wallstraße und dieser war eines Tages verschwunden. Gott, wie oft hatte ich dort während einer meiner miesen Taxi-Nachtschichten gegessen und die trübe Nacht etwas aufgehellt. Schon lange fahre ich nicht mehr Taxi, und hatte den Imbiss schon beinahe verdrängt als ich letzten Sommer beim Ran Maruay Station machte und der Inhaber mich damals sofort erkannte: „Gude, wie geht?“
Kurz darauf hocke ich bei einem formidablen Pad Krapao samt einer Cola und blicke rüber nach Alt Sachsenhausen. Wie oft hatte ich dort mit meinem Taxi auf Fahrgäste gewartet, mal am Halteplatz Dreieich, mal auf der anderen Seite an der Elisabethenstraße. Einmal hat mir einer von einer wackligen Gruppe in der Nähe von Gießen ins Auto gekotzt. Nachts an der Tanke Wetterau auf der Autobahn dann die Kiste halbwegs gereinigt. Zuvor hatte ich dem letzten halbwegs Nüchternen an Bord alles an Bargeld abgenommen, was er noch hatte. War trotzdem kein Spaß. Gefeiert habe ich in Alt-Sachs schon lange nicht mehr, lustig waren die Bembelbar-Abende in der Klapper. Doch die sind auch schon lange Geschichte. Aber tagsüber laufe ich zuweilen ganz gerne über die Pflastersteine, viel ist nicht los. Lustigerweise beschleicht mich ein dezentes Urlaubsgefühl. Manchmal klappt es, die eigene Stadt so zu betrachten, wie man eine fremde Stadt betrachtet. Bei Licht gesehen, ein ganz schönes Gefühl. Man sieht ganz andere Dinge. Die kleinen und großen Graffitis, die Eingangstüren der Schuppen, in denen ich zuweilen saß, die Klapper, der Elfer, das Speak Easy, der Ponyhof oder ganz früher der Gorjel Schwenker, der heute nicht mehr den allerbesten Eindruck macht. Im Schöppchen war ich erstaunlicherweise noch nie, dafür aber in einigen Ebbelwoi-Lokalen. Dauth Schneider, Grauer Bock, Lorsbacher Tal, Struwwelpeter und wie sie alle heißen. Jägermeister und „Ficken“ ist in vielen Spelunken im Angebot, das verschachtelte Marco Polo zerfällt augenscheinlich. Eine seltsame Ruhe liegt im Viertel, geöffnet hat der Froschkönig, Sapo Rey – ein Kolumbianer. Vorne am Obernbayern werden Getränke angeliefert, im Bonkers wartet ein junger Mann auf Kundschaft. Skateboards und Turnschuhe gehen heute eher schlecht und die Frau Rauscher spuckt stoisch auf die Klappergass. Nach 10 Versuchen habe ich endlich auch ein bisschen Wasser fotografiert. In der Klappergass oder war es in der Großen Rittergasse wird eine Wohnung vermietet. Ein Zimmer, Küche Bad. 580 Euro. Das Fenster im Erdgeschoss, da kannst du Junggesellenabschieden vom Sofa aus auf die Schulter klopfen. An vielen Kneipen hängen Zettel. Keine Flaschen, Gläser, Waffen und Alkohol auf unseren Straßen. Bin dann doch eher skeptisch, ob das klappt. Hier und da hat eine Agentur ihr Zuhause gefunden, an vielen Türen weisen Klingeln darauf hin, dass tatsächlich Menschen hier wohnen. Tagsüber ein Idyll, nachts hingegen wird es hier eher ungemütlich. Aber satt wirst du auf jeden Fall. Früher gab es hier Rollis, leckere Rollbratenbrötchen. Manchmal sind wir schon nachmittags ins Raffles gefahren. Waren im Spritzehaus zur Live Musik. Einmal war ich sogar an Weihnachten im Speak Easy. Buffo hat uns Heavy Metal um die Ohren geballert. Aber so richtig verliebt war ich nie in Alt-Sachsenhausen. Das Beste war eh der Laden, dessen Namen ich erschreckenderweise schon wieder vergessen habe. Neben Pizza Petro schuftete Luigi am Grill. Fettige Fleischspieße mit Tomaten-Kartoffeln und Knoblauch-Spinat und dazu eine fantastisch scharfe grüne Soße. Manchmal habe ich auch an einer gegrillten Wachtel geknabbert. Lang ist’s her.
Und wenn wir schon einen gechillten Urlaubstag in Sachsenhausen begonnen haben, dann lassen wir uns den Urlaub auch nicht mehr nehmen. Nach einer ganzen Weile im Viertel wander ich rüber in die Brückenstraße, der aufgehübschten, schönen aber auch verwöhnten Schwester von Alt-Sachs. Vorbei am Drauf und dran, Astrids Tattoo-Studio, geht’s jetzt nach Portugal. Im Casa de Portugal gönne ich mir einen Galao, ein Pasteis de Nata und ein Rissois de Camarao, während für Pia auch noch ein Pasteis abfällt. So schlendere gedanklich durchs Alentejo, sitze am Cabo de Sao Vincente am Meer und trinke am Tejo einen Vinho Verde. Mit meinen Köstlichkeiten in der Hand laufe ich rüber in den Park an der Schifferstraße, setze mich auf einen Baumstamm. Leben wie Gott an der Algarve. Hinter mir untermalt ein Gitarrist mit seinen Klängen sehr behutsam die Szenerie, es fehlt nicht viel und jemand beginnt zu singen. Fado. Kleine Glücksmomente.
Lustigerweise hatte Lisa getwittert, dass sie tourimäßig oben am Goetheturm verweilt, und da ich gar nicht weit weg davon bin, halte ich es für eine wunderbare Inspiration. Seit dem Brand war ich nie oben gewesen – und so setzt sich der Urlaub in Frankfurt fort. Ich werfe dem Gitarristen einen Euro in seinen Koffer und bedanke mich, er freut sich und nur wenig später liegt Pias Pasteis sicher im Helmfach und ich tucker fröhlich den Hainer Weg hinauf. Statt Henninger Turm gibt es hier jetzt Luxuswohnungen. Dann lieber Portugal.
Der Sachsenhäuser Landwehrweg führt seit eh und je Richtung Stadtwald. Am Parkplatz stelle ich meinen Roller ab. Wie oft sind wir hier früher abends gewesen. Joints gedreht, Genesis gehört, durch den Wald gewandert und über Gott und die Welt philosophiert. Manchmal sind wir auch über die Absperrung geklettert und blickten nachts über die Lichter Frankfurts.
Nach ein paar Metern wächst er vor mir in die Höhe, der Goetheturm – Frankfurts schönstes Hochgebäude. Unten auf einem Bänkchen sitzt Lisa mit einem Kumpel, wir babbeln eine Weile, dann lasse ich die beiden in Ruhe und schleppe mich die Stufen nach oben. „Acht Menschen gleichzeitig“ weist ein Schild aus. Aber wie soll das gehen? Nach oben steigen, abzählen, feststellen, dass wir mehr als acht sind und dann wieder runterklettern. Egal, ich bin geimpft. Hier und da kommt mir jemand entgegen. Ich halte gebührend Abstand, bin gar nicht so böse über die kleinen Päuschen – und habe es nach roundabout 200 Stufen geschafft. Vor mir liegt Frankfurts Skyline, davor das grüne Blätterdach des Stadtwaldes, dahinter wächst der Taunus in die Höhe. Frankfurt. Bankfurt. Oder wie die Straßenjungs einst sangen: „Bankfurt, Bankfort, ich wollt es wär hier jede Bank fort“. Heimat. Moloch. Nischen. Jede Straße mit dem Taxi durchfahren, überall lagern Geschichten, Tragödien, Komödien und hinten im Wald, da spielt die Eintracht. Der Blick gleitet in die Ferne. Doch. Hier ist mein Zuhause. Kindergruppen kommen vorbei, suchen Euros, um durchs Fernrohr zu gucken. Aufgeregtes Geschnatter. Wer weiß, vielleicht denken sie irgendwann einmal an den Tag zurück, an dem sie erstmals hier oben waren. An mich wird sich niemand von ihnen erinnern, soviel ist sicher. Und hoffentlich kommt kein Kleinhirn auf die Idee, den Goetheturm wieder anzuzünden. Denn zum Urlaub in Frankfurt gehört ab jetzt der Besuch des Goetheturms.
Beseelt klettere ich nach unten, rauche auf einem Bänkchen eine Cigarette und roller dann gemütlich über den Wendelsweg an Gärten vorbei Richtung Oberrad. Dort habe ich 17 Jahre lang gewohnt. Aber dies ist eine andere Geschichte. Und die wird womöglich bei Gelegenheit erzählt. Die CD von Revolte Tanzbein habe ich natürlich noch nicht, der Laden war ja zu. Aber so gibt es wenigstens noch einen Grund, mal wieder ein Tag Urlaub zu machen, um sie zu besorgen. In Frankfurt.