Ein Sammelsurium aus dem angebrochenen Leben

Neue Hymnen, alte Lügen

Wie oft bin ich Donnerstags nach dem Ende des Marktes an der Konstablerwache Richtung Feinstaub gelaufen oder mit dem Rad gefahren, es waren meist lustigeTreffen, bei Apfelwein und wilden Diskussionen rund um die Eintracht. Manchmal holte ich mir am Kiosk an der Petersstraße noch ein Schöppchen oder Zigarettenpapier. Die Zeiten ändern sich.

Nunmehr ist die Runde an der Konsti eine kleine geworden, falls überhaupt jemand anwesend ist, den ich kenne. Und aus dem Kiosk hat sich in den vergangenen Wochen etwas heraus geschält, über das schon das Stadtkind berichtet hatte: Ein herausgeputztes kleines Café oder Bistro mit netter Deko und Speisen nebst Getränken im Angebot, Fein heißt die Trinkhalle heute und es zeigt sich, dass neben der liebevollen Umgestaltung vor allem die einstige Bauweise des Büdchens ein Kleinod ist. Kacheln an der unteren Wand, die fein gesäubert im Abendlicht glänzen, der runde hölzerne Tresen, die runde Fensterfront und am Dache eine runde Dachrinne, Arbeiten, die heute ein Vermögen kosten. Als wir dort ankamen, entdeckte ich einen Minitresen an einem Baum, ich inspizierte ihn neugierig, bis mich der Kompagnon der Besitzerin darauf hinwies, dass zwecks Befestigung kein Nagel verwendet wurde, sondern fester Draht. Löblich. Blättchen gibt es derzeit zwar keine mehr, dennoch könnte ich mir vorstellen, regelmäßig dort vorbeizuschneien, um ein Schöppchen zu nehmen. Ich bin gespannt, wie sich der Laden entwickelt und angenommen wird. Gegenüber befand sich ein altes Gestüt, im Zuge der Modernisierung einem Wohnhaus gewichen.

Selten genug, dass im Zuge der Gentrifizierung etwas entsteht, das meinen Beifall findet. Und wie so oft zeigt sich, dass der Reiz des Neuen nicht darin liegt, Altes abzureißen und etwas anderes zwecks Gewinnmaximierung hinein zu tackern, sondern das Alte behutsam umzugestalten. Dass ich es verhältnismäßig spät entdeckt habe, ist der Tatsache geschuldet, dass ich einige Wochen außer Haus war. Und dass es mir schwer fällt, mich in gewohnter Umgebung zurechtzufinden. Mir kommt es vor, als ginge alles seinen gewohnten Gang und ich bin dabei aus der Zeit gefallen. Nehme nicht teil, schaue durch Glas, verstehe nicht.

Wochenlang die gleichen Lieder gehört, der hilflose Versuch, die Zeit zu dehnen. Symptomatisch, dass ich nicht in Berlin war, als die Eintracht dort gespielt hat. Eigentlich eine schöne Sache, so ein Ausflug nach Berlin, der alten Freunde wegen und der neuen Erlebnisse. Vielleicht hätte ich fahren sollen, vielleicht hole ich es im Sommer nach. Ohne Fußball. Vielleicht habe ich auch zur Eintracht alles gesagt, was gesagt werden musste. Die meisten alten Platten haben einen Sprung. Eine neue Platte aber gefällt mir, ich weiß nicht weshalb, aber sie gefällt mir: Die neue Tocotronic. Immerhin. Man kann den Erwachsenen nicht trauen …

Meine Lieblingsbeschäftigung ist derzeit einwandfrei, mit meiner neuen kleinen Piaggio durch die Gegend zu rollern. 50 Kubik, Automatik. Man muss nur aufpassen, nicht von Autofahrern auf die Haube genommen zu werden. Dabei vergisst man auch, dass eine deutsche Lieblingsbeschäftigung derzeit das Verhindern von Flüchtlingswohnheimen ist. Wohlstandsverwahrlosung.

Neue Hymnen, alte Lügen singen Tocotronic. Ich weiß nicht, wovon sie singen, welche Hymnen, welche Lügen sie meinen. Aber ich singe mit. Der Tag wird kommen, an dem ich weiß, weshalb.

8 Kommentare

  1. Eintracht-Laie

    Erst dachte ich „Petersstraße ist aber ein Umweg“ aber natürlich ist diese Route viel schöner als die Friedberger rauf.
    Neue Hymnen, alte Lügen!?
    Auch wenn der Ausspruch nicht von Dir ist, er ist gelungen…und lädt ein darüber nachzudenken. Auch wenn nicht klar ist wo diese Gedanken hinführen werden, aber das ist ja das Schöne daran.
    Danke für den Text!

  2. Beve

    bitte. genau, ein umweg der schöneren routen wegen. streunern. wie die gedanken :-)

  3. Kid

    „Man kann Erwachsenen nicht trauen“ – ich würde sagen, das ist altersunabhängig. Wer Menschen traut, tut es allemal auf eigene Gefahr. Ich fühle mich übrigens zurzeit in der Gesellschaft von Tieren deutlich wohler als in der vieler Menschen.

    Tocotronic ist nicht mein Fall, deine Blogeinträge dagegen sehr. Über was du schreibst, ist dabei zweitrangig. Ich nehme immer etwas für mich mit.

    • Beve

      Tocotronic haben sich mit den Jahren zu einer Band entwickelt, von der mich einzelne Songs sehr begeistern, nicht alle, aber kleine Lieblingshits sind mit jeder neuen Platte dabei. Die Erwachsenen packt mich nun, wie zuvor nüchtern bleiben oder mein ruin oder hier leben nein danke.

      Gesellschaft von Tieren? Fischadler, Geckos, Affen, Eichhörnchen, Blaumeisen, Ameisen. Halbe Hähnchen, Schnitzel, Bratwurst. Gesellschaft von Menschen ist stets problematisch, weil sie Spiegel sind. Aber es gibt gute Spiegel. Wir bleiben wir und ändern uns. Digital ist nichts, was bleibt. Eine Hand auf der Schulter. Kid, vielleicht sollten wir uns an einem guten Ort betrinken.

  4. rotundschwarz

    Ich habe mich in den letzten Wochen öfter mal gefragt, ob und wie dir der Übergang in die Normalität (was immer das ist) geglückt ist. So also – mal mehr, mal weniger.

  5. Beve

    Kerstin, ich weiß nicht, wie ich Dinge und Menschen, mich dazu, wahrnehmen soll, kann, will. Aber ich habe wieder einmal erlebt, was Leben bedeuten kann. Aber es ist vielleicht einfach in Zeiten, in denen du dich nicht um Geld kümmern musst. Was bleibt ist die Frage: Wohin? Und wie. Häutungen dauern.

  6. Andi

    Hmm, irgendwie traurig :-(
    Schade daß du (und Pia) nicht nach Berlin gefahren seiT, wir hätten unsern Spaß gehabt ;-)
    Ein Gestüt? Entweder ich war jahrelang blind oder ich versteh den Witz nicht!

    • Beve

      Ich wusste das auch nicht, das Gestüt war wohl schon länger draußen, jetzt sind auch die Gebäude dem Vernehmen nach verschwunden.

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