Ein Sammelsurium aus dem angebrochenen Leben

Es ist ja nur der Schmerz

Sonntag Morgen, Frankfurt-Sachsenhausen. Ein Trupp von 20 Frauen und Männer hat sich vor den Toren des Südfriedhofs eingefunden. Das Eintracht Museum hatte nach dem Rundgang auf dem Hauptfriedhof zum zweiten Mal zu einer Führung zu den Gräbstätten verstorbener Eintrachtler eingeladen. Im Nachhinein erwies sich der Termin natürlich als eher ungünstig – einen Tag nach dem vierten Abstieg in der Vereinsgeschichte. Natürlich sind wir geknickt, der Samstag steckt allen in den Knochen – und doch erinnert Matze Thoma daran, dass die Eintracht mehr ausmacht als die jeweiligen elf Kicker und die jeweils aktuelle Situation – es gibt eine 112jährige Historie und diese Historie ist geprägt von Menschen unterschiedlichster Art. Vier von ihnen liegen hier begraben und an ein fünften erinnert eine Gravur auf einem Grabstein.

Zunächst besuchen wir das Grab des ehemaligen Präsidenten Rudolf Gramlich, dessen Sohn Klaus nicht nur anwesend ist, sondern gleichfalls Präsident der Eintracht war. Rudolf Gramlich war nicht nur Kapitän der Eintracht in den Dreißiger Jahren; er war WM-Teilnehmer 1934 und trug auch bei Olympia 1936 das Trikot der Nationalmannschaft.  Die Rolle Gramlichs im Zweiten Weltkrieg ist bislang nicht eindeutig geklärt. Es gibt Fotos, die ihn in der Uniform der Waffen-SS in Polen zeigen aber auch Schreiben von jüdischen Mitbürgern, die ihn wohlwollend entlasteten. Nach dem Krieg war er zunächst als Haupttäter angeklagt, wurde später als gering schuldig eingestuft. Nach Entnazifizierung  und Verbüßung einer Bewährungsstrafe sowie einer Geldstrafe wurde Gramlich 1955 Präsident von Eintracht Frankfurt. In seine Amtszeit fiel die Deutsche Meisterschaft und auch der Einzug in die neugegründete Bundesliga. Bis 1970 lenkte der mächtige Mann, in dessen Präsidiumszimmer sogar Nationalspieler die Knie schlotterten, die Geschicke der Eintracht. Ein großer Freund von Gramlich wurde der rührige Toni Hübler, der von 1954 bis 1994 für die Eintracht zunächst als Gärtner und später als Zeugwart tätig war.

Anschließend wandern wir zu Joost Deeg, den Nachkriegsschatzmeister, der sich schelmisch als Bürgermeister von Sachsenhausen ausgab, um freies Geleit bei Auswärtsfahrten zu bekommen. In seinen Wohnungen wurden viele Eintrachtler heimisch, auch Meistertorwart Egon Loy wohnte in einer Wohnung von Joost Deeg, der 1980 verstarb. Ganz in der Nähe liegt das Grab von Richard Kirn, der den deutschen Sport, die Frankfurter Eintracht und die Stadt Frankfurt über Jahrzehnte auf großartige Art und Weise journalistisch begleitete und so manch Anekdote nebst kritischer Anmerkung hinterlassen hat. Er plädierte für den Samstag als einzigen Spieltag – fünfzig Jahre bevor die Debatte erneut aufflammte und er bemerkte, dass die Eintrachttore im Stadion Jahrzehntelang zu niedrig gewesen seien. Kirn ist noch heute, über dreißig Jahre nach seinem Tod, ein Vorbild der schreibenden Zunft. Noch vor wenigen Monaten schrieb Eintrachtfan Andreas Eder im Blog von Kid:

Richard Kirn war es nie genug, lediglich den Verlauf eines Spieles zu schildern und dessen Höhepunkte zu benennen, er drang vielmehr tief in jenes Stück Leben ein, das in diesen 90 Minuten für uns in verdichteter Form steckt, er ließ seine Leser die Luft dieses Spiels atmen und malte ihnen ein Bild der Auseinandersetzung, die sich dadurch oftmals tiefer einprägen konnte, als durch heutige Präsentation mit 2:30 Minuten Fernsehberichterstattung.

Zu übersehen, dass Richard Kirn dieses Spiel und seine Atmosphäre aus tiefstem Herzen geliebt hat, ist unmöglich.

Wir begeben uns dann an das Grab des Meistertrainers Paul Osswald, dessen Enkel uns ebenso wie der Urenkel und die Urenkelin begleitet. Paul Osswald übernahm die Eintracht schon Ende der Zwanziger Jahre und wurde mit ihr sowohl 1930 als auch 1932 Süddeutscher Meister. Im gleichen Jahr unterlag die Eintracht mit Rudi Gramlich im Finale zur Deutschen Meisterschaft in Nürnberg mit 0:2 gegen die Bayern. Trainierte Osswald, dessen Leidenschaft das Fischen war, von 1946 bis 1958 den OFC, so wechselte er zur Saison 58/59 zurück zur Eintracht. Ein Jahr später feierte der Verein den vielleicht größten Triumph der Vereinsgeschichte –  und wurde erstmals Deutscher Meister. In einem der dramatischsten Endspiele der Historie konnten die Mannen um Alfred Pfaff und Richard Kress die Kickers aus Offenbach mit 5:3 niederringen. Der Präsident der Kickers war der Cousin des Eintracht Präsidenten Gramlich. Im Anschluss an den nationalen Titel erfolgte der Siegeszug durch Europa, der erst im denkwürdigen Finale in Glasgow vor 127.000 Zuschauern von Real Madrid gestoppt wurde. Mit Osswald zog die Eintracht auch in in die Bundesliga ein – und belegte im ersten Jahr einen dritten Platz. Besser hat sich die Diva niemals mehr platzieren können. Auf die Frage, welche Erinnerungen an seinen Großvater noch besonders präsent sind, antwortet dessen Enkel: Es sind vielleicht die Worte, die er uns mitgab wenn es uns schlecht ging, psychisch oder körperlich; er sagt stets: Ach, es ist doch nur der Schmerz. Worte für die Ewigkeit. Ach, es ist doch nur der Schmerz.

Zum Abschluss gedenken wir an den einstigen Eintracht-Spieler und Jugendfunktionär Max Lehmann. Max liegt nicht hier begraben, eine Gravur im Grabstein der Familie seiner Frau erinnert an ihn. Max Lehmann stellte seinen Körper nach dem Tod medizinischen Zwecken zur Verfügung, Gott allein weiß, wo sich die sterblichen Überreste befinden. Er, jüdischen Glaubens, heiratete eine Christin und konvertierte ebenfalls zum Christentum. Dies ersparte ihm letztlich nicht den Aufenthalt in einem Konzentrationslager gegen Ende des Krieges, welches er aber überlebte. Sein Bruder Jule war der letzte dokumentierte Jude im Trikot der Eintracht während der NS-Zeit. 1937 wurde dieser vom Verein ausgeschlossen und aller wahrscheinlichkeit in den Vierziger Jahren in einem Konzentrationslager ermordet. Die Mutter verstarb auf dem Weg ins KZ.

An allen Gräbern verweilen wir einen Moment und legen einen Blumenstrauß im Namen der Eintracht nieder.

Dunkle Wolken ziehen auf, als sich die Eintrachtler in alle Winde verstreuen. Wir marschieren zu dritt in ein gegenüberliegendes Café, trinken einen Kaffee und treffen – Kurt E. Schmidt, der mit einem Freund die aktuellen Ereignisse bespricht. Kurt ist seit Jahrzehnten Mitglied bei der Eintracht und regelte 1959 als Polizist anlässlich der Deutschen Meisterschaft den Verkehr an der Alten Oper mit Eintrachtfahnen, die ihm Alfred Pfaff in die Hand gedrückt hatte. Bis heute ist Kurti, wie in seine Freunde nennen, aktiv bei der Eintracht, bei den Profis wie auch bei den Amateuren. Es ist ein großes Hallo.

6 Kommentare

  1. Kid

    Ja, es ist ja nur der Schmerz. Und der darf sich melden und auf seine Botschaften sollte geachtet werden. Nur Macht übers Leben, die darf er nicht haben. Denn: Es ist ja nur der Schmerz. So groß und stark er zuweilen auch sein mag.

    Danke fürs Mitnehmen, Beve.

    Gruß vom Kid

  2. Frank

    16.Mai 2011 | Er ist noch immer da, der „Rostock-Schmerz“. 19 Jahre sind vergangen und wir stehen wieder in Trümmern. Stunde Null. Wiederaufbau. Drepression
    >> Es ist ja nur der Schmerz.
    Wir leiden & lieben mit jedem neuen Tag.
    In schwarzweißroter Verbundenheit bis an das Ende aller Tage.
    Frank

  3. rotundschwarz

    Fast finde ich, es konnte keinen besseren Termin für den Rundgang geben. Nicht wegen des Abstiegs, sondern trotz. Mehr als der Tag.

    Danke dir sehr für den Rundgang und die Kurzbiografien.

  4. Fritsch

    Im Leiden & der Niederlage liegt eine ganz besondere Melancholie. Sie macht mich häufig sprachlos. So wie jetzt gerade. In der Erinnerung kommen wir zusammen. Das fühlt sich gut an. Das wärmt das Herz.

    Danke, Beve!

    Viele Grüße & weiterhin sichere Straßen,
    Fritsch.

  5. Martin

    Danke für den Bericht, ging mir ‚irgendwie nahe‘ (furchtbare Wortkombination, oder?).
    Danke auch dafür, dass du mich letztens beim Köln-Spiel davon abgehalten hast wieder mit dem Rauchen anzufangen – das hatte die Truppe wirklich nicht verdient.
    Viele Grüße
    Martin

  6. Beve

    martin, das hat die truppe nicht verdient, fürwahr.

    wobei: es ist ja nur der schmerz.

    danke euch fürs feedback, es war ein schöner tag. trotz allem.

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