Ein Sammelsurium aus dem angebrochenen Leben

Langnese 1972

1972. Es war das letzte Frühjahr, in dem ich die Rückbank unseres weißen Opel Kadett L alleine für mich hatte. Meine Eltern bekamen ein Kind und ich am 1. Juni eine Schwester. Bei der Eintracht gehts bergauf. Ich wünschte, ich könnte dies von heute behaupten. Jürgen Grabowski wird fester Bestandteil der Fußball-Nationalmannschaft, diese bezwingt England erstmals in deren Wohnzimmer, in Wembley, mit 3:1 und wird wenig später tatsächlich Europameister. Mit Günther Netzer produziert die Bundesliga zudem den ersten Popstar. Alles freut sich auf die Olympischen Sommerspiele in München, die trotz aller Freude in einem Desaster münden. Palästinensische Terroristen töten 12 israelische Delegationsteilnehmer, im Feuergefecht sterben fünf der Attentäter und ein Polizist. Legendär wurden die Worte des IOC-Präsidenten Avery Brundage: The games must go on.

Mark Spitz, US-Amerikanischer Schwimmer, holt bei sieben Starts sieben Mal Gold. Heide Rosenthal und Ulrike Meyfarth überragen im Team der BRD. Ich selbst war Pfadfinder und war irgendwie froh, dass die rauen Gesellen und Gesellinnen der RAF dingfest gemacht wurden, viele sogar in Frankfurt. Die Fahndungsplakate waren angsteinflößend, manchmal drehten wir uns verstohlen auf dem Schulweg um, ob jemand der Bösen in der Nähe war. Die RAF hieß damals noch gar nicht RAF, sondern Baader-Meinhof-Bande. Kanzler wurde Willy Brandt, doch für Politik interessierten wir uns nicht. Wir wussten ja gar nicht, was das war. Unsere Helden hießen Tarzan oder Huckleberry Finn und wir liebten Daktari.

Bei Langnese hatte sich einiges getan: Schnubbl gehörte 1972 nach nur einem Jahr nicht mehr zum Aufgebot, es sollte der einzige Abgang bleiben. Dafür präsentierte der Eissommer gleich vier Neuzugänge. Anlässlich des Olympiajahres durfte der Olympia-Cup nicht fehlen. Eine Mark durfte man dafür hinlegen; ein teures Vergnügen. Neu waren zudem Dingi Fresh, welches im jahr zuvor noch unter Dinghi Erdbeer firmierte sowie Baninchen – wieder einmal hatte sich Langnese bei der Namensgebung mächtig ins Zeug gelegt. Ein Neuzugang, den ich ins Herz geschlossen hatte, war Cola-Pop, der Bruder von Capri. War echte Cola bei uns zu Hause tabu, so war Cola-Pop der perfekte Ersatz. Vorwiegend mit Flaschenpfad der zurückgebrachten Eder-Bierflaschen meines Stiefgroßvaters bezahlt, gab es Zeiten, in denen ich mich von Cola-Pop ernährte. Es waren nicht die schlechtesten.

Preislich wanderten Jolli und Capri in Fünf-Pfennig-Schritten nach oben; Super-Twinny wurde gar 10 Pfennig teurer, während das obere Premiumsegment stabil blieb. Es ist wie immer, die Armen werden geschröpft. Kinder haben keine Lobby. Unbeeindruckt blieben zudem die Klassiker. Nogger, Split, Domino, Happen, Cocktail, Cornetto oder Konfekt – sie alle begleiteten uns wie gute alte Bekannte durch den Sommer. Und es war ein schöner Sommer. Trotz allem. Ich wurde nämlich Klassenbester. Den Sommer verbrachte ich in Mömlingen, Brötchen gab es beim Bolle-Bäcker und die Gastwirtschaft hieß Adler.

7 Kommentare

  1. pia

    cola-pop mochte ich lieber als capri. obwohl es bei uns ab und zu zuhause richtige(!) cola gab. zu der zeit als es fanta noch in den braunen glasflaschen mit den ringeldellen gab.

  2. Beve

    fanta – luxuxgüter, die gabs ab und an bei oma. hieß dann jedoch mirinda :-) in mömlingen kam der wasserwilli und brachte gelbe limo. die verschlüsse waren aus keramik incl gummi und metalbügel. wahnsinn.

  3. rotundschwarz

    Hihi. Bei uns war’s eher wie bei Familie Beve – Cola gab’s keins. Cola-pop fand ich trotzdem doof – Capri liebte ich, durfte ich aber nur selten, weil (davon war hier neulich schon mal die Rede) „Wassereis ist ungesund und liegt so kalt im Magen“ (und diese Begründung hatte nix mit „öko“ zu tun, sondern war ganz und gar altmodisch).

    Gestern stand ich grade vor einer Eistruhe, in der sich kein einziges Eis am Stil, dafür eine ganze Reihe spitze Tüten und glitzernde Päckchen befanden, die fast schon irgendwie High Tech aussahen. „Schnubbl“ würde man ein Eis heute wohl kaum noch taufen

    PS: Kennst du den „Kindheitsroman“ von Gerhard Henschel? Da wird der Zeitenwandel auch Jahr für Jahr durch den Blickwinkel des Größer- und Älterwerden des Ich-Autors aufgeblättert… Eissorten, Fernsehserien, Musik, Kleidung, Sommerferien, kleine Schweser, große Schwester, …

  4. Schnellinger

    Wenig neues auf dem Eismarkt 72, aber dafür sonst in dem Jahr, das hast du ja schön ausgeführt, Axel.
    Der Cola-Pop war nicht so der Bringer, aber das war wohl auch ein Versuch Langneses, sich an den aufkommenden Wassereisboom dran zu hängen. Ich erinnere mich wie wir jede große Pause zum Tante-Emma-Spar-Lädchen gegenüber gepilgert sind und uns für 10 oder 15 Pfennisch die bunten Stangen im Plastikmantel holten. Heimlich natürlich, weil liegt ja wie gesagt schwer im Magen ;-) Solche Weisheiten kamen immer von den Tanten die einem auch die bespuckten Tempos ins Gesicht schmierten. Bäh.
    Vor der besagten Bande hatte ich nie Schiß, im Gegenteil fand ich das „Bande“ sehr verwegen klang, außerdem hatten wir ja auch eine. Und die Berichte in der Nachtausgabe klangen spannend.

  5. Beve

    jetzt habe ich mir in einem auktionshaus ein fahndungsplakat ersteigert :-)

    von henschels werk habe ich schon gehört; da muss ich aber nochmal in meinen erinnerungen kramen. wassereis – bis heute lutsche ich an der wasserchemie mit begeisterung. es kann vorkommen, dass ich mich mit zehnjährigen um ein solches balge …

    viele grüße

    beve

  6. Schnellinger

    Hat die Auktion Grabi-Münze denn schon ein erfolgreiches Ende genommen?

  7. Beve

    ich habe die münze zwar noch nicht – aber das geld überwiesen. n euro. :-)

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