Kalt ist’s, dunkel dazu, als ich am Abend des 30. November die Wiesenstraße hoch spaziere. Zwischenzeitlich hatte ich fast den Glauben daran verloren, an diesem Abend noch nach Hause zu kommen, manchmal laufen die Dinge dann ja doch anders als geplant – und wer unterwegs ist, der kann meist etwas erzählen. Ich war in London.

Gebucht hatte ich Flug und Unterkunft direkt nach der Auslosung für die Gruppenphase der Europa League, vor ein paar Wochen wurde mir die Unterkunft storniert, also musste ich eine andere organisieren – aber ich wurde fündig, airbnb, das Zimmer in Camden für 30 Pfund die Nacht, für London ein mehr als akzeptabler Preis. Bitter wurde es dann, als die Auswärtssperre für Fans der Eintracht durch die UEFA bestätigt wurde. Aber ich hatte Glück und bekam eine Karte – die ich wohl verpackt im Gepäck hatte, als ich am Mittwoch gegen Viertel nach vier in aller Frühe zur Straßenbahn marschierte. Mutterseelenalleine, Pia hatte es vorgezogen, in Frankfurt zu bleiben, schließlich waren wir ja erst im Mai in London, als die Eintracht hoch dramatisch gegen Chelsea im Halbfinale ausschied.

Zwei Mal im Jahr nach London zu fliegen, das hatte ich bislang auch noch nicht geschafft – aber in dieser Hinsicht war dieses Jahr sowieso nicht normal. Es begann im Februar mit Kiew und Charkiw, dann war ich in Theresienstadt, in Mailand, in Lissabon, London, Helsinki und Tallin, Vaduz, Straßburg, Berlin, Porto, wieder in Theresienstadt, Hamburg und Lüttich – unfassbar viele Erlebnisse binnen kurzer Zeit, welch Privileg. Jetzt also wieder London, leider mit Ryanair, der Geldbeutel ließ mir keine andere Wahl. Bildete ich mir ein.

Die Bahn kommt pünktlich, auch die S-Bahn rauscht wie geplant an der Konstablerwache ein, erste Eintrachtler kommen mir entgegen, ein weiteres Abenteuer hat begonnen, ich bin gut in der Zeit. Die Bahn fährt zum Fernbahnhof, ein Shuttlebus bringt mich zum Terminal zwei. Auch die Passkontrolle und den Securitycheck nehme ich problemlos, der Flieger selbst hebt 10 Minuten später ab als geplant, der Platz neben mir bleibt frei. Stewardessen hasten mit Wägelchen und Rubbellosen umher, eine freudlose Veranstaltung, das Licht ist für die frühe Stunde viel zu hell. Immerhin: Flüge nach London haben den Vorteil, dass sie kurz sind, kurz vor halb acht setzen wir in London Stansted auf, hallo London, da bin ich wieder.

Im Flughafen hole ich mir noch am Automaten ein Ticket für die Hin- und Rückfahrt mit dem National Express nach Paddington, warte rauchend auf die Abfahrt und werde von einer Sicherheitsbeamtin freundlich darauf hin gewiesen, dass der Raucherbereich drei Meter weiter hinten ist. Dies ist die erste Begegnung mit den Londonern Regeln. Du darfst eigentlich nichts, wirst aber stets sehr freundlich darauf aufmerksam gemacht, Kameras dokumentieren jeden Schritt, es regnet.

Pünktlich auf die Minute fährt der Bus ab, keine zehn Leute sitzen darin, wir stecken mitten im Berufsverkehr, aus dem Radio klingt „Don’t stop me now“ von Queen, während sich der Bus über den Highway quält. Eine Stunde und fünfzig Minuten später steige ich an der Baker Street aus, gegenüber liegt das Sherlock Holmes Museum, in dem ich vor Jahren mit Pia war. Sie fehlt mir schon jetzt. Es ist binnen acht Jahren meine siebte Reise nach London, erstmals ist sie nicht dabei.

Ich laufe durch den Regents Park, der sich ein paar Schritte hinter der Baker Street nach Norden zieht, der kürzeste Weg zur Unterkunft ist durch eine private Veranstaltung gesperrt, auch der Parallelweg wird mir durch einen sehr höflichen Sicherheitsbeamten freundlichst verweigert. Auf meinem Rücken baumelt mein grüner Rucksack. Viel ist naturgegeben hier noch nicht los, ich wandere nach oben, leider ist der Ausgang zu meiner Unterkunft durch eine Baustelle gesperrt, über den nassen Rasen marschiere ich außenrum. Die Schuhe sind matschig, die Socken nass, als ich fünf Minuten später vor meiner Unterkunft stehe. Leider stehen kleine Namen auf der Klingel, dankenswerter Weise jedoch hat mir mein Gastgeber noch eine Nachricht geschickt, flat 2 – ich klingele, der Summer ertönt, die Tür öffnet sich und in der Tür steht ein großer schwarzer Mann gut gelaunt im Bademantel. Rechter Hand befindet sich ein Zimmer, geradeaus das meinige, links Dusche und Toilette, dahinter die Küche. Nach einem kurzem Hallo werfe ich meinen Rucksack ins saubere Zimmer, wechsel Socken und Schuhe und schon bin ich mit Schlüsseln in der Hand wieder auf der Straße.

Der Parkway führt an Läden und Pubs vorbei zur Station Camden Town, die High Street hoch liegen die Märkte, an den Geschäften hängt Touri-Krimskrams jeglicher Art, Klamotten, Lederwaren, die Häuser sind bunt bemalt, rote Busse schieben sich die Straße hoch. Ich hole mir einen Tee. Ein paar Schritte um die Ecke gelangst du an den Regents Canal, hier ist nichts los, ab und an schnauft ein Jogger vorbei. Ich wandere am Kanal entlang, biege ab Richtung Primrose Hill – und lande am anderen Ende meiner Straße, gut zu wissen. Noch bin ich etwas planlos, laufe am Eingang zum London Zoo vorbei, gehe wieder zurück Richtung Park. Schulkinder in Uniformen und Warnwesten marschieren schwatzend an mir vorüber, es regnet. Da ich an der Baker Street ausgestiegen bin, dort aber keine offizielle Coach-Haltestelle sichtbar war, beschließe ich, mir den Ort genauer anzuschauen, vielleicht finde ich ja die Stelle an der der Bus für die Rückfahrt halten wird. Über die Park Road gelange ich zur Baker Street, eine Haltestelle für den National Express aber erschließt sich mir nicht. So entscheide ich, am Samstag in Paddington abzufahren, dort sollte sich der Abfahrtsort leichter finden lassen. Jetzt habe ich Hunger und da es eh stärker regnet, halte ich an der Tube Station meine Oysterkarte über den Scanner und nehme die Bahn Richtung Shepherd’s Bush Market. In unmittelbarer Nähe befindet sich das Shabab, ein kleines Restaurant mit gleichermaßen günstigen wie genialen Lammcurries. Den Laden hatten wir vergangenes Jahr entdeckt, als wir hier im Shepherd’s Bush Empire bei einem Konzert von Jim Bob waren. Zunächst muss ich einmal um die vier Ecken laufen, da ich nicht mehr genau weiß, wo er ist, aber ich finde ihn, schon liegen auf meinem Teller Lammkoteletts und ich bin glücklich.

Hier in Shepherd’s Bush herrscht ein buntes Treiben, multikulti vom Feinsten, Touristen kommen nur hierher, wenn sie in der Nähe gelegenen Loftus Road ein Heimspiel von den Queens Park Rangers besuchen – die heute Abend gegen Nottingham spielen werden. Einige Frankfurter haben schon angekündigt, heute vor Ort zu sein, ich jedoch tendiere zu einem Konzert der Young Gods in der Garage in Highbury.

Zunächst aber nehme ich den Bus Richtung Picadilly Circus. Busfahren in London ist eine günstige Angelegenheit, für 1,50 kannst du durch die ganze Stadt fahren, wenn du Glück hast, sitzt du oben und schaust aus dem Panoramafenster auf das vorbeiziehende London, so wie jetzt, als wir auf der Bayswater Road am Hyde Park vorbei rollen, in die belebte und bunte Oxfortstreet einbiegen und wenig später am Picadilly Circus landen. Wer kennt sie nicht, die gigantische Leuchtreklame, die einen der zentralen Plätze Londons bestrahlt. Ein Straßenmusiker spielt Halleluja von Leonard Cohen und Chasing Cars von Snow Patrol, das macht er gut, jede Menge Zuschauer applaudieren völlig zu recht, so auch ich. Nach einem kurzen Abstecher ins Lillywhites (Pia kauft hier immer etwas, ich nie) schiebe ich mich hoch Richtung Soho, schon wird es dunkel, es ist noch keine vier Uhr. Chinatown lasse ich rechts liegen, überquere die weihnachtlich beleuchtete Oxford Street und marschiere weiter Richtung des unwirtlichen Euston Squares, langsam werde ich müde. So laufe ich hoch, passiere Mornington Crescent und lande bald wieder in Camden. Als ich heimkomme, höre ich aus dem Nebenzimmer Geräusche, ein Fernseher läuft, sehe jedoch niemanden. Und so haue ich mich auf’s gemütliche Bett, lade mein Handy auf und entscheide mich, später zum Konzert zu gehen.

Ein Grund, mich für eine Unterkunft in Camden zu entscheiden, war ganz klar die Lage. Du bist in wenigen Schritten im Park, hast Pubs und Läden um die Ecke und über die Stationen Camden Town und Camden Road sowie mit den Bussen, auch den Nachtbussen, flugs in allen Ecken der Stadt. Und zur Not in einer Stunde ins Emirates-Stadion gelaufen, fall’s irgend etwas ist. Der 274er Bus bringt dich nach Islington/Angel – dort war ich vor Jahren mal bei einem Konzert von And also the trees, die Location in einem Einkaufszentrum gelegen. Von hier ist’s fußläufig knapp 20 Minuten zum heutigen Club. Ich mache das ja gerne, durch die Gegend zu wandern, zu gucken. Im Bus allerdings irritiert mich die Durchsage: Dieser Bus fährt nicht zum angegebenen Ziel, machen sie sich beim Fahrer schlau. Das Problem wird aber einfach gelöst. Da die Tickets für die Busfahrt im Gegensatz zur Underground nicht zum Umsteigen berechtigen, bekommen wir einen Ausdruck und nehmen einen nächsten Bus, der auch sofort kommt und uns nach Islington bringt. Angel Station.

Die Upper Street hoch geht es Richtung Highbury, ein Dosenbier für unterwegs, an der Islington Assembly Hall warten Menschen auf Einlass für ein weiteres Konzert. Auch hier reihen sich Läden an Pubs an Restaurants, wer Geld hat, kann hier gut leben. Immer wieder aber liegen Obdachlose in Nischen, ein Anblick, der sich in den folgenden Tagen in allen Ecken Londons bietet. Die Tage werden kälter, die Nächte sowieso.

Der Club The Garage liegt direkt am Highbury Corner, ich frage am Einlass nach Tickets. Es gibt noch jede Menge, also hole ich mir erstmal in einem Supermarkt gegenüber ein weiteres Bier, rauche eine Cigarette und besorge mir dann für 23 Pfund eine Eintrittskarte. Die Location macht einen coolen Eindruck, von der Größe her vielleicht vergleichbar mit dem Bett in Frankfurt. Viel ist noch nicht los, kaum bin ich vor Ort, beginnt auch schon die Vorband. Haze, fünf Jungs in schwarzen Hosen und weißen Hemden geben ordentlich Gas, machen Laune, derweil sich der Laden doch füllt, ausverkauft ist es sicher nicht, aber es ist die perfekte Mischung aus Crowd und Platz als The Young Gods beginnen. Zwischenzeitlich sprechen mich zwei Leute an, sie halten mich für den Sänger des Hauptacts, Franz Treichler. Das Bier kostet 5,50, die Einheimischen zahlen lässig kontaktlos. Karte ans Lesegerät halten, fertig. Ich versuche es später mit meiner EC-Karte, muss jedoch meine Nummer eingeben. Immerhin, ich taste mich voran. Das nächste Bier zahle ich wieder bar.

Das Konzert ist großartig, sie spielen sogar einen meiner derzeitigen Lieblingssongs, figur sans nom. Schön hypnotisch geht die Zeit vorbei, es war die absolut richtige Entscheidung, mich für dieses Konzert zu entscheiden. Der Zufall will, dass der Schlagzeuger der Band gemeinsam mit Simon Huw Jones von And also the trees ein gemeinsames Projekt am Start hat, November. 2006 erschien die erste CD, just in diesem Jahr die zweite, die ich für 10 Pfund erwerbe. Beschwingt trete ich den Heimweg an, beschwingt nehme ich die Overground und beschwingt fahre ich in die falsche Richtung. Aber ich bemerke es immerhin sofort, steige an der nächste Station aus und schon rauscht die richtig Bahn an, die ich an der Camden Road wieder verlasse. Auf dem Heimweg gönne ich mir einen überraschend guten Burger und falle todmüde in die Koje.

Matchday

Es gibt viele Plätze in London, an denen ich aus den unterschiedlichsten Gründe gerne bin, der Hyde Park gehört definitiv dazu. Der Bus bringt mich nach einem Tee nach unten – wobei ich in Camden noch Katja, Petra und Vatmier treffe. Irgenwo ruft’s ja immer: „Beve“. Später realisiere ich, dass dieser Bus auch direkt vor meinem Haus stoppt. Über das Cumberland Gate enter ich den Park. Ein gigantischer Weihnachtsmarkt mit Riesenrad und Trallala wartet auf Besucher, er kostet scheinbar Eintritt, auf jeden Fall braucht man irgendwie ein Ticket für dieses Winter Wonderland – das ich so oder so links liegen lasse. Mein Weg führt mich zur Serpentine, der See, der sich in den Park schmiegt. Eichhörnchen und Vogeltier werden gefüttert, Spätherbst, braune Blätter an den Bäumen, blaue Tretboote vertäut am Ufer. Ich laufe weiter, bis ich über Kensington Gardens das Ende des Parks erreiche. Von dort sind es nur ein paar Minuten bis Notting Hill, bis zur Portobello Road, der putzigen Einkaufsstraße, die so oft besungen wurde und eine Hauptrolle im Film Notting Hill spielt. An der Hausnummer 22 hängt eine blaue Plakette für George Orwell, der hier einige Zeit lebte, weiter unter liegt die Buchhandlung, die im Film eine weitere Hauptrolle spielt, ebenso wie in der Westbourne Park Road die Hausnummer 280. Dort lag die Filmwohnung von Hugh Grant, dort spazierte Julia Roberts alias Anna Scott hinein. Just als ich die Türe fotografieren will, öffnet sich die Tür, aber ist nicht Julia, die kommt, es ist ein Hausbewohner, der abschließt. Schnöde Wirklichkeit.

Ich aber wander weiter über Ladbroke Grove in Richtung Shepherd’s Bush, vorbei am Grenfell Tower, der in der Nacht vom 13. auf 14. Juni 2017 vollständig ausbrannte, ein Feuer, welches rund 80 Menschen das Leben kostete. An den umliegenden Häusern hängen Zettel für die Presse, dass man die Leute hier in Ruhe lassen soll, am Tower selbst eine große Plane mit der Aufschrift: Grenfell forever in our hearts. Nachdenklich laufe ich weiter, verfranse mich leicht und lasse mich mit dem Navi zurück zu Shepherd’s Bush führen. Ein Lammcurry später sitze ich im 31er Bus, der mich ohne Umsteigen nach Camden Town fährt, vorbei an der Abbey Road. Eine Stunde dauert die Fahrt, ich sitze oben und wische von Zeit zu Zeit die beschlagenen Scheibe frei. Kaum ausgestiegen, ruft mich Stefan an, mein Klingelton ist verräterisch: „Ob Rom, Mailand oder London …“. Der Zufall will, dass Camden als allgemeiner Treffpunkt ausgemacht wurde, keine fünf Minuten von meiner Unterkunft entfernt. Praktisch.

Eine halbe Stunde später treffen wir uns an der Underground, Stefan und Dario kamen vom British Museum, jetzt stoßen wir überall auf Eintrachtler. Chris ist hier, John kommt vorbei, es regnet. Kurz darauf setzt sich ein erster Marsch in Bewegung, wir aber halten uns fern, beschließen, mit der Overground Richtung Angel zu fahren. Dario und Stefan machen sich im Hotel noch schnell frisch, derweil ich warte und auf eine kleine Eintracht Delegation treffe, die hier ebenfalls untergebracht ist. Anschließend machen wir noch einen kurzen Stopp bei einem Libanesen und wandern dann den Weg hoch, den ich gestern schon zum Konzert gelaufen bin. Vorbei geht es an der „Garage“ Richtung Emirates Stadion. Was wird uns erwarten, sind wir doch eigentlich ausgesperrt? Wobei unsere Tickets zu den wenigen gehören, die hoch offiziell sind. Gerd kommt mit Arsenal Schal vorbei, er hat sich auf anderen Wegen eine Karte besorgt, ist quasi getarnt. Da wir noch auf Claudia warten, die sich durch den Londoner Verkehr schlängelt, passieren wir gemächlich die erste Kontrolle, die sich aber nicht um uns kümmert und nur für Tascheninspektion zuständig ist. Etwas später ist unsere kleine Gruppe vollständig, der Einlass geht schnell und unkompliziert, im Vorraum zum Block gibt es echtes Bier, welches aber nicht mit in den Block genommen werden darf, rund ums uns sitzen viele Frankfurter, neben mir Frauke und Öri. Die Musik ist brüllend laut, dass Stadion bei weitem nicht ausverkauft, Ordner ordnern, delegieren, sind freundlich aber bestimmt. Trinken verboten, rauchen verboten, aufstehen verboten, fluchen verboten. Während der folgenden 90 Minuten beschwichtigen sie uns ununterbrochen, obgleich eigentlich nichts nennenswertes passiert, zumindest auf den Rängen. Auf Seiten Arsenals passiert rein gar nichts. Totentanz im Stadion. Ich muss mich zwingen, nicht auffällig zu werden, was aber in der ersten Halbzeit kein Problem ist. Zusammen gesackt schaue ich mir das Elend an. Die Eintracht bekommt kein Bein auf den Boden, die Bälle fliegen Rönnow nur so um die Ohren. Ich komme mir vor, wie früher am Riederwald bei einem Spiel der Amateure. Es ist genau so laut und genau so grottig. Und natürlich macht Aubameyang kurt vor Anpfiff das unnötige aber völlig verdiente 0:1. Zwischenzeitlich trugen wir große Sorge um unseren bravourösen Torhüter, der sich verletzt am Boden krümmte. Aber er konnte weiter machen. Da Lüttich zu diesem Zeitpunkt in Guimaraes führte, liegt ein Weiterkommen der Eintracht nun in weiter Ferne, ich habe 45 Minuten Zeit, mich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Doch kaum sind wir für ein Halbzeitschöppchen unten, dringt die Kunde vom Ausgleich Guimaraes durch, doch nur ein Narr hätte das Träumen begonnen. Ich verabschiede mich von Pflugi für’s erste mit den Worten: „Naja, schaun wir ma’“.

Arensal hat Sekunden vor Anpfiff das 2:0 auf dem Fuß, vergibt aber. Okay, es geht so weiter, wie in der ersten Halbzeit. Die Frage ist nicht, ob wir hier verlieren, sondern nur noch wie hoch. Und dann kommt Kamada und wuppt die Kugel zum Ausgleich ins Netz. Wir springen auf, jubeln, die Ordner beschwichtigen, die Eintracht ist zurück im Spiel, das schon aussichtslos schien. Jetzt wäre eigentlich der Moment, auf den Rängen so richtig durch zu drehen, hier in London aber dreht niemand durch. Wir müssen uns benehmen, ein paar versuchen den Support, werden umgehend gebeten, diesen wieder einzustellen. Hätte ich keine offizielle Karte, wär’s mir egal, aber man will ja nicht unangenehm auffallen. Ab und an erklingt dennoch ein „Hurra, hurra, die Frankfurter sind da“, ein „Eintracht, Eintracht“. Hinter dem Tor scheint sich mittlerweile auch ein erklecklicher Haufen Frankfurter eingefunden zu haben. Immer wieder schallen Sprechchöre durchs totenstille Rund, beschwichtigende Ordner allenthalben, es ist absurd, hier mit angezogener Handbremse zu sitzen. Von Arsenal kommt mittlerweile auch auf dem Platz nichts mehr und dann ist es wieder Kamada, zieht ab – die Eintracht führt. Unfassbar. Und wieder das alte Spielchen. Aufspringen, High five, Ordner, es ist alles dermaßen albern, aber die Eintracht führt. Und sie ist voll im Spiel. Hinter dem Tor wird es immer voller, immer lauter, erste Wechselgesänge schallen durchs Stadion. Ein paar Engländer regen sich auf, einer fliegt. Özil wird eingewechselt. Und dann sind es noch vier Minuten, noch drei, zwei, wir haben den Ball – und aus. Die Eintracht gewinnt erstmals in London in einem Pflichtspiel der Neuzeit. Nach den teils dramatischen Niederlagen in West Ham, Tottenham und Chelsea endlich ein Sieg. Wir treffen uns bei einem Bier vor dem Block. Überall grinsende Gesichter, Frankfurter fallen sich in die Arme, welch ein historischer Abend, versaut und gleichermaßen ermöglicht durch die UEFA, deren Kollektivstrafen sofort auf den Müllhaufen der Geschichte gehören. Aber die Atmosphäre im Stadion wird sich dadurch nicht bessern. Die gesamte Verbotsstrategie in England ist so dermaßen absurd, die Eintrittspreise dazu, das hat mit Fußball nichts mehr zu tun. Da ist ja im Kino bei Schindlers Liste mehr Stimmung.

Da der abendliche Treffpunkt wieder in Camden ist, nehmen wir in Highbury/Islington die Overground zur Camden Road, wandern hoch zum Worlds End Pub, der jedoch nach einem Schoppen schließt. Wir versuchen noch weiter oben ins Elephants Head zu kommen, es darf aber nur jemand rein, wenn ein anderer den Pub verlässt. Da Claudia, Dario und Stefan noch weiter müssen, verabschieden sie sich von hier, ich jedoch schlüpfe nach digitaler Ausweiskontrolle hinein und treffe natürlich jede Eintrachtler. Mit einigen saß ich in Porto in einer Hähnchenbraterei, mit anderen nahm ich an der Stadtführung in Tallin teil. Aus den Boxen erklingt „Don’t stop me now“, alle singen mit, auch bei „Mama Mia“, während Sweet Caroline flugs zu Eintracht Frankfurt umgedichtet wird. Kurz bevor dieser Pub schließt, marschiere ich die fünf Minuten hoch in die Unterkunft. Punkt zwei bin ich im Bett. Auswärtssieg!

Unterwegs

Was für ein Abend. Ich lese die Spielberichte, sehe das Video vom Empfang des Mannschaftsbusses am Stdion. Fucking great. In Camden hole ich mir einen Tee, dann marschiere ich bei Sonnenschein hoch zu Primrose Hill. Von hier hast du einen phantastischen Blick über London, ganz hinten dreht sich das London Eye, spitzt the Shard in die Höhe. Unten am Regents Canal wandere ich am Wasser entlang, Hausboote dümpeln vor sich hin, bis ich über Little Venice Paddington erreiche. Dort suche ich die Abfahrt des Busses zum Airport – und nur dank Tante Google werde ich fündig. Eine unscheinbare Haltestelle an der Bishops Bridge Road markiert den Abfahrtspunkt. Immerhin weiß ich nun, wo morgen ich hin muss. Befreit schlender ich weiter durch Paddington, sehe keine Bären und lande wieder im Hyde Park. Hinter Victoria liegt der kleine Stadtteil Pimlico, hier habe ich mit Pia oft gewohnt, hier gibt es den Tachbrook Market mit kleinen Imbissbuden. Die Londoner stehen Schlange. Ich hole mir japanisches Rindfleisch mit Reis für 5,50 und setze mich anschließend im Warwick Way ins Café Nero – und denke an all meine vergangenen Reisen, als ich mit Pia hier umher geschlichen bin. Ein kleines Gefühl von Heimat stellt sich ein. Dann geht es weiter Richtung Themse, Vauxhall Bridge. Gegenüber an der Southbank wachsen gläserne Hochhäuser in die Höhe, vor gar nicht allzu langer Zeit war hier noch nomansland. Wie schon bei den beiden letzten Ausflügen ist der Big Ben auch heute eingerüstet. Schade, mich freut der Anblick des goldenen Glockenturms immer sehr. Massen schieben sich über die Westminster Bridge, Hütchenspieler reiht sich an Hütchenspieler, völlig verwundert nehme ich dies zur Kenntnis, dachte eigentlich die sind so out wie hohe Buffalos.

Ich laufe am London Eye vorbei, durchquere den Weihnachtsmarkt, Straßenkünstler künstlern vor sich hin, als mein Telefon klingelt. Eine aufgelöste Pia ist dran: „Ich hab dich schon zwei Mal versucht, zu erreichen, ist alles klar bei dir?“ Äh, ja, weshalb? Und dann erfahre ich, dass es ein paar Brücken weiter an der London Bridge eine Schießerei gegeben hat. Ich selbst habe nur ein paar zivile Polizeiautos gesehen, aber das ist ja in London Standard. Die Schießerei stellt sich als Attentat heraus, zwei Menschen sind gestorben; ich bin nicht weit weg – aber safe. Von daher cancel ich meinen Plan, bis zur London Tower Bridge zu laufen, gehe über die Blackfriars Bridge rüber zu St. Pauls – und da es mir hier zu wuselig ist, nehme ich den Bus zur Brick Lane. Leider ist es nunmehr zu dunkel, um Streetart zu fotografieren. Statt dessen werfe ich einen Blick in den Rough Trade Plattenladen und schlender die beleuchtete Brick Lane nach unten. Tausend indische oder Bangladesh Restaurants warten auf Kundschaft, jedes davon das beste der Stadt – laut Eigenauskunft. Eifrige Mitarbeiter quasseln jeden an, der auch nur einen Hauch zögert, ein sicheres Zeichen, solche Läden zu meiden. Dann schlage ich mich an die Seite, durchquere gläserne Hochhausschluchten und nehme den Bus am Finsbury Square Richtung Camden. Kurz werfe ich mich ins Bett, um bald darauf noch einmal zu Shepherd’s Bush zu fahren. Hinzus nehme ich die Overground, ein letzter Spaziergang in die Uxbridge Road, ein letztes Mal die Lammkoteletts und zurück geht es wieder mit dem 31er Bus. Ich steige Chalk Farm Road aus, wandere am Roundhouse vorbei, werfe einen Blick in den hiesigen Aldi ehe ich gegen elf wieder in meiner Unterkunft lande. Über 40.000 Schritte bin ich heute gelaufen, ein neuer Tagesrekord seit Beginn meiner Aufzeichnungen. Der alte stammte … ebenfalls aus London. Mai 2017.

Der letzte Morgen bringt mir ein kleines Frühstück in Camden, ehe ich mich mit meinen Halbseligkeiten im Rucksack auf den Weg nach Hampstead Heath mache, diesmal mit dem Bus. Die Fahrt in den Norden dauert keine 20 Minuten. Hampstead Heath ist ein wunderbares Wald- und Wiesengelände mit verwunschenen Fleckchen und Seen und dient den Londonern mit Hunden als beliebtes Ausflugsziel, Gummistiefel sind Pflicht – ich trage Turnschuhe. Dort, wo die Sonne nicht hin kommt, sind die Wege feucht, aber es geht. Ich wander an Wiesen vorbei Richtung Kenwood House, dort wurden auch Aufnahmen für Notting Hill gedreht, hier kann man gemütlich sitzen oder aber sich das Haus anschauen, welcher ein reicher Engländern den Bürgern vermacht hat. Leider reicht meine Zeit hierfür nicht, so geht es zurück durch den Waldpark Richtung Bus. In den Seen wird auch heute gebadet, vergnügt hüpft der ein oder andere ins Wasser.

Da ich an einem anderen Ausgang lande als ich angekommen bin, weist mir die Citymapper den Weg zum nächsten Bus, fünf Minuten sind zu laufen, fünf Minuten sind zu warten – schon geht es nach Paddington, meine letzte Stadtrundfahrt, die an der Craven Road zu Ende geht. Es ist halb zwei, um sieben geht mein Flieger. Der Hinweg dauerte 110 Minuten im Berufsverkehr, allerdings bis zur Baker Street, zwanzig Minuten Fußweg entfernt. Meine Kalkulation beruht darauf, spätestens um halb sechs am Airport zu sein, eine Stunde bis zur Schließung des Gates sollte ausreichend sein, eingecheckt hatte ich ja schon online. Also kein Berufsverkehr, ein paar Minuten längere Fahrt – um halb vier abzufahren sollte reichen. So besorge ich Pia noch einen kleinen Paddington-Bär, setze mich in ein Café und machte mich kurz vor drei auf, Richtung Anlegestelle. Zufälligerweise steht ein Bus schon zur Abfahrt bereit, 15:10 Uhr rollen wir los, knapp vier Stunden, bevor mein Flieger geht, 62 Kilometer Fahrt am Samstagnachmittag.

Wir sind keine 10 Minuten unterwegs, als es kracht. Ein weiterer Bus hat unseren Außenspiegel abgefahren, der Fahrer steigt aus, telefoniert, wir sitzen fragenden Blickes im Bus. Irgendwann kommt die Info, dass wir sitzen bleiben sollen, ein andere Bus würde uns auflesen. Einige um mich herum werden nervös, ich bin ja noch gut in der Zeit. 20 Minuten später kommt dann auch der neue Bus, Platz gibt es genug. Palaver hier, Palaver dort – mittlerweile ist es Viertel vor vier. Wir durchqueren die Viertel, stehen an jeder Ampel und halten erst ein- dann zweimal. Bis zur Baker Street haben wir eine weitere Halbe Stunde gebraucht, wie auch immer. Finchley heißt der nächste Halt und ein weiterer folgt in Golders Green. Da der erste Bus ja ausgefallen war, warten nun schon eine ganze Menge Menschen dort. Sitzplätze sind rar, stehen nicht erlaubt. Und natürlich hebt ein großes Palaver an. Verzweiflung macht sich breit. Irgendwann sind dann doch alle drin, weitere 20 Minuten gehen dabei drauf, im Ernst, zu Fuß wäre ich schneller gewesen. Mittlerweile ist es Viertel vor fünf, die ersten weinen, andere bequatschen die Busfahrerin. Und so schieben wir uns aus London raus. Hatte ich den Hinweg noch mit einer langen Highway Fahrt in Erinnerung, so sind wir auch eine halbe Stunde später noch nicht aus London draußen. Mein Navi, das ich mittlerweile angeworfen habe, weist einen Unfall aus. Ankunftszeit geplant nun: 18 Uhr. Und ihr wisst ja, wie das ist, mit jeder Minute Fahrt, verschiebt sich die Ankunftszeit nach hinten.

Vor zwei Jahren hatten wir mal einen Flug verpasst, da wir am falschen Flughafen gelandet sind, jetzt also der nächste drohende Ausfall. Ich überschlage alle Möglichkeiten: Entweder es klappt irgendwie, doch noch pünktlich zu sein. Falls nicht muss ich mir ein Hotel suchen und einen anderen Flug nehmen, ich füge mich in mein Schicksal, es nutzt ja alles nicht. Dennoch wäre es mir lieb, den geplanten Flieger zu nehmen – allein, es liegt nicht mehr in meinen Händen. Jetzt sind wir auf der Autobahn, vor uns liegen noch 40 Kilometer, es ist halb sechs. Immerhin verschiebt sich die Ankunftszeit während der Fahrt nur um zwei Minuten. 18 Uhr könnte klappen, aber auch jetzt darf nichts, aber auch gar nichts mehr schief gehen. Um 18:02 Uhr hält der Bus vor dem Terminal – ich sprinte nach draußen, suche eine Anzeigetafel mit Abfluggate und Zeit. Die Zeit bleibt weiterhin 19:00 Uhr, Gate 45. Ich sprinte zum Securitycheck. Eine digitale Tafel verkündet: Wartezeit 20 Minuten. Meine Bitte an eine Mitarbeiterin, einen schnelleren Weg zu ermöglichen verhallt ungehört. Okay, ich schiebe mich unter Absperrungen durch. Zögere. Egal, weiter. Sorry hier, sorry da, murmel etwas von Accident und stehe vor dem Check. Sachen in die Kisten werfen. Durch die Kontrolle durch, es klappt. Sogar mit Gürtel, den ich vergessen hatte, auszuziehen. Jetzt sprinte ich an Milliarden von Geschäften vorbei, an der nächsten Ecke weitere Geschäfte. Weiter, weiter. Ich feuer mich selbst an. Gott sei Dank gibt es keine Passkontrolle, Gate 41, 43, 45. Es ist geschlossen. Um 18:27. Das kann doch nicht wahr sein, es sollte doch erst um 18:30 schließen.

Die Dame am Empfang murmelt etwas. Weiter hinten sitzen Leute, warten auf den nächsten Flug. Schweiß rinnt in Strömen. Ich höre genauer zu: „The boarding haven’t started yet“. Äh, das Boarding hat noch nicht begonnen? Nach Frankfurt? „Genau“. Die da hinten warten alle auf den 19:00 Uhr Flug nach Frankfurt. „Jawohl.“

Alter. Ich laufe nach hinten und schon ruft es „Beve“. Hal ist auch hier und ne ganze Menge anderer Eintrachtler auch. Jemand reicht mir ein Taschentuch, ich wische den Schweiß ab. Ich habe es geschafft. Natürlich warten wir noch eine ganze Weile, bis es los geht, warten auf der Treppe und warten vor dem Flugzeug. Mir egal, ich bin da.

Im End geht dann alles ganz schnell, 19:10 Uhr Ortszeit heben wir ab, um halb zehn bin ich draußen am Terminal 2, fahre mit Shuttlebus zum Terminal 1, esse eine Cigarette und eile von dort zum Fernbahnhof. Kaum bin ich unten, rollt auch schon die S-Bahn ein. „Auf Grund eines Zwischenfalls hält dieser Zug nicht zwischen Hauptbahnhof und Offenbach Ost,“ ertönt die Durchsage. Na super. Grund sind Luftballons in der Oberleitung. Aber auch egal, am Bahnhof spaziere ich rüber zur U4, die auch gleich kommt, steige Bornheim Mitte aus und schleppe mich die Wiesenstraße hoch zum Park. Ein letztes Mal abbiegen, die Klingel drücken, die Stufen hoch – und ich bin zuhause. Pia steht schon im Türrahmen und wir fallen uns in die Arme. Fast hätte ich nicht mehr daran geglaubt. Im End aber denke ich an das Attentat auf der London Bridge, es hätte mich ganz anders und viel schlimmer erwischen können. Es ist mal wieder alles gut gegangen – und die Eintracht hat ja schließlich auch noch gewonnen.