Dreißig Eintrachtfans begaben sich im Oktober auf die Reise nach Theresienstadt, tschechisch: Terezin. Initiiert von der Fanbetreuung, inhaltlich begleitet vom Eintracht Museum und Martin Liepach vom Fritz Bauer Institut, suchten wir Spuren im einstigen Ghetto. Ein Bericht.


Vor über drei Jahren hatte ich mich alleine auf die Reise nach Theresienstadt gemacht, einem der zynischsten Orte des Holocaust, der Shoa. Eine Reise, die mich bis heute nicht mehr losgelassen hat. 155.000 Menschen, vorwiegend Juden, durchlitten dieses Ghetto. 120.000 von ihnen fanden den Tod, die meisten von ihnen in den Vernichtungslagern im Osten, ab Oktober 1942 in Auschwitz. Im Februar diesen Jahren kehrte eine kleine Delegation der Eintracht zur Vorbereitung einer großen Reise nach Theresienstadt zurück, die nun, am 11. Oktober 2019 vom Eintracht Museum aus startete. Mit an Bord des Busses war auch Helmut „Sonny“ Sonneberg, der seinerzeit mit dem vorletzten Transport aus Frankfurt am 18.2.1945 gemeinsam mit seiner Mutter Rechna Wessinger in Theresienstadt eintraf – und das Lager überlebt hatte. Lange Jahre schwieg er über seine Deportation, erst zu Beginn des Jahres sprach er erstmals im Eintracht Museum öffentlich über seine Geschichte. Nun begleitete er uns als Zeitzeuge und kehrte erstmals nach 74 Jahren an den Ort des Grauens zurück. Nadine und Julian von der Fanbetreuung reisten mit mir schon einen Tag zuvor an, um vor Ort grundlegende Dinge für die Gruppe zu klären.

Erste Eindrücke vor Ort

Unsere kleine Gruppe traf in der Dunkelheit des 10. Oktober 2019 gegen 22:30 in Theresienstadt ein, bezog die ersten Zimmer und trank noch ein Feierabendbier. Gegen Mitternacht machte ich mich zu Fuß noch einmal auf in den Ort, der Ende des 18. Jahrhunderts als Festungsanlage aus dem Boden gestampft wurde. Das Habsburgerreich unter Kaiser Joseph II wollte sich gegen die Preußen schützen, die Festung Theresienstadt sollte ein Bollwerk werden – wurde jedoch nach Fertigstellung nie in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt. Elf Kasernen unterschiedlicher Größe befanden sich in der Großen Festung, im Laufe der Zeit kamen etliche Wohnhäuser dazu. Einige hundert Meter dahinter, ein paar Schritte hinter der Eger befindet sich die Kleine Festung, die als Gefängnis diente. Den Garnisonscharakter hatte Theresienstadt während der folgenden beiden Jahrhunderte nie verloren, Soldaten und Händler lebten in der Großen Festung, in der Kleinen Festung fristeten Häftlinge ihr Dasein, auch Gavril Princip mit seinen Genossen, deren Schüsse auf Franz Ferdinand 1914 den Ersten Weltkrieg auslösen sollten.

Mit der erzwungenen Abtretung des Sudentenlandes ans Deutsche Reich und der späteren Annektion der restlichen Tschechischen Republik im März 1939, hielten die Nationalsozialisten auch das Gebiet des nördlichen Böhmens, in dem Theresienstadt liegt, in ihren Händen, die Republik wurde zum Protektorat Böhmen und Mähren. Mit anderen Worten: Theresienstadt liegt zwar im heutigen Tschechien, gehörte aber von 1939 bis 1945 zu Deutschland, verwaltet und drangsaliert durch die NS. Schon 1940 richtete die Gestapo ein Gefängnis in der Kleinen Festung für politische Gefangene ein. Im Oktober 1941 wurde in Prag von Eichmann, Heydrich und anderen führenden Nazis im Rahmen der „Lösung der Judenfrage“ die Einrichtung des Ghettos in Theresienstadt beschlossen. Zweifelsfrei sollte schon damals Theresienstadt nur als Durchgangslager dienen, das eigentliche Ziel war die Vernichtung aller Juden, nach dessen Erreichen sollte Theresienstadt „in einer tadellosen Planung deutsch besiedelt werden“.

Ich wandre durch Theresienstadt …

Es ist nach Mitternacht, ich wandere durch die kleinen Straßen des Ortes. Wenige Autos parken am Straßenrand, es ist still, etwa 3.000 Menschen leben hier, Zivilisten, nach dem Ende des Warschauer Pakts 1989 sind die letzten Soldaten aus der Stadt abgezogen. Bevor die Nazis die Stadt übernahmen lebten hier auf knapp 70 Hektar 7.000 Menschen – als die Deportationen im November 1941 begonnen, wurden es immer mehr. Letztlich musste die tschechische Zivilbevölkerung bis zum 30.6.1942 Theresienstadt verlassen, keine drei Monate später drängten sich auf engsten Raume über 58.000 Häftlinge. In den Kasernen, Wohnhäusern, Dachböden, Kellern. Der gesamte Ort wurde zum Ghetto, nachdem die ersten Deportierten noch in den Kasernen hausten und diese außer zu Arbeitszwecken nicht verlassen durften.

Zunächst wurden Juden aus dem Protektorat Böhmen und Mähren nach Theresienstadt deportiert, es begann mit den beiden Aufbaukommandos im November und Dezember 1941. Darunter war auch der Kern der jüdischen Selbstverwaltung, auch der erste Judenälteste, Jakob Edelstein. Knapp 1.350 Mann mussten die grundlegenden Strukturen für die folgenden ankommenden Transporte legen. Bis Juni 1942 wurden ausschließlich tschechische Juden nach Theresienstadt deportiert, ab Juni 1942 auch Deutsche, Österreicher, Niederländer, Dänen, Slowaken und Ungarn. Knapp 90.000 von den über 140.000 Ankommenden wurden in 63 abgehenden Transporten bis zum 28. Oktober 1944 in die Vernichtungslager geschickt, davon überlebten die Torturen nur 3.500 Juden, Menschen. Im Ghetto selbst starben über 33.000 Menschen. An Hunger, Krankheiten, Schwäche, an Hoffnungslosigkeit. Theresienstadt war kein Vernichtungslager, der Tod im Ghetto wurde von den Nazis billigend in Kauf genommen, er ersparte ihnen logistischen Aufwand.

Ich wandre durch Theresienstadt, laufe an das Tor Richtung Bohusovice. Hier liegen Reste der Gleise, auf denen die Züge mit den Häftlingen ab Juni 1943 direkt ins Ghetto einrollten. Zuvor mussten die Unglücklichen die 2,5 Kilometer vom Bahnhof in Bohusovice ins Ghetto laufen. 50 Kilogramm Gepäck durften sie mitnehmen, vieles wurde schon bei der Registrierung in den Heimatorten gestohlen. Wer jetzt noch Schätze besaß, dem wurden sie meist bei der Ankunft gestohlen, die Registrierung im Ghetto wurde „schleusen“ genannt, ein vor Ort gebräuchlicher Ausdruck für stehlen. Vor allem für die deutschen Juden offenbarte sich nun ein gigantischer Betrug. Ihnen wurde die Illusion mitgegeben, bei Theresienstadt handele es sich um einen Alterssitz für verdiente, ältere Juden, eine Art Kurort. Erzwungene Heimeinkaufsverträge beraubten die alten Menschen ihres Vermögens, bestimmt waren sie aber für ihre Vernichtung. Davon wussten sie nichts. Wie groß das Entsetzen, als sie erstmals die Verhältnisse vor Ort erkannten. Viele hatten für die wirklichen Verhältnisse völlig unpassendes Gepäck dabei, einquartiert wurden die Neuankömmlinge in den schlechtesten Unterkünften, schlafen mussten sie auf dem nackten Beton. Wer länger hier blieb, suchte sich bessere Optionen. Vielleicht eine Pritsche, die in den Unterkünften dreistöckig dicht an dicht standen. Diese Pritschen blieben der einzige private Raum im Ghetto, kaum 2qm Leben, bevor es ins Gas ging, von dem sie nichts wussten.

Ich wandre durch Theresienstadt, zurück in die Unterkunft. Ins Parkhotel. Ins einstige SS-Kameradschaftsheim. Für Juden war dieser Ort damals nicht zugänglich. Heute ist es eine der ganz wenigen Möglichkeiten, für eine größere Gruppe im Ort zu übernachten. Die Geister der gequälten wispern. Bei meinen anderen Besuchen im Ghetto übernachtete ich in Litomerice bzw. in Lovosice einige Kilometer entfernt. Es ist die erste Nacht für mich in einem ehemaligen Ghetto. Ich habe ein geräumiges Zimmer, ein Bett mit Decke und Kopfkissen, ein Badezimmer mit Dusche, ein offenes Fenster, einen Schreibtisch und bin satt. Welch unfassbares Privileg.

11. Oktober 2019

Während sich die Reisegruppe um Matze Thoma in Frankfurt am Eintracht Museum trifft, um gegen 12 Uhr mit dem Reisebus zu starten, frühstücken wir und bereiten die Dinge vor Ort vor, wir richten den Gruppenraum her und strukturieren die Abläufe. Später fahren Nadine und Julian nach Prag, holen Basti ab, der aus Wien mit dem Flugzeug kommt.

Kastanien

Ich wandre durch Theresienstadt, es ist ein sonniger Herbsttag, langsam verlieren die Bäume ihre Blätter, Kastanien liegen auf dem Boden. Auf der Straße, die von Litomerice kommend nach Prag durch den Ort führt, donnert LKW um LKW entlang. Der Neuankömmling wundert sich bei Licht, wie und wo hier das Ghetto war. Zunächst fallen nur wenige Spuren auf, ein Hinweisschild auf das Ghettomuseum etwa. Tafeln an einzelnen Kasernen weisen darauf hin, man muss diese entdecken. Spurensuche. Unter dieses Motto haben wir auch die Veranstaltungsreihe gestellt, die nun in der Reise mündete. Wir haben mit Sonny gesprochen, der in großer Runde erzählte, wir sind durch Frankfurt auf der Suche nach jüdischen Spuren marschiert, wir haben den Film Liga Terezin gesehen, einen Film, der sich um die Tatsache dreht, dass im Ghetto Fußball gespielt wurde, sogar in einer eigenen Liga. Wir haben uns mit Literatur beschäftigt, mit dem Buch „Lindenstraße“ von Peter Dippold, der die fiktive Biographie eines jungen Eintrachtlers während der NS-Zeit nieder geschrieben hat und mit Frantisek Steiners Buch „Fußball unterm gelben Stern“, welches Dr. Stephan Zwicker ins deutsche übersetzt hat und eben Fußball im Ghetto beleuchtet. Wir waren an der Großmarkthalle, der jetzigen EZB, dem Ort, an dem die Frankfurter Deportationen los gingen. Auch Sonny wurde von hier nach Theresienstadt deportiert, mit ihm seine Mutter. Beide überlebten das Ghetto, die Folgen muss Sonny heute noch tragen. Physisch. Psychisch.

Ich laufe an die Dresdner Kaserne. Das Dach ist durch einen Tornado beschädigt, das Gebäude wirkt zerfallen. Ein Betreten des Hofes ist aus Sicherheitsgründen nicht möglich. Hier fanden die Fußballspiele statt, hier wurden Filmaufnahmen gemacht, die heute noch existieren. Die Nationalsozialisten hatten im Ghetto auch knapp 500 dänische Juden gefangen. Die Dänische Regierung jedoch sorgte sich um deren Verbleib, so kündigte sich der Besuch einer Delegation des Roten Kreuzes an. Infolge dessen wurde das Ghetto ab 1944 verschönert. Die Delegation sollte die Fassade eines Ortes vorfinden, der ihr statt dem Bild der Wirklichkeit eine illusionäres vorgaukelt. Fassaden der Häuser wurden gestrichen, das Kaffeehaus in Szene gesetzt, Geld produziert, sogar einige dreistöckige Betten wurden abgesägt, dass die qualvolle Enge der Räume nicht durch einen zufälligen Fensterblick ans Licht der Öffentlichkeit dringt. Dazu gehört auch, dass Tausende Häftlinge in den Osten deportiert wurden, ihr ausgemergeltes Äußeres passte nicht in das von den Nazis gewünschte Bild.

Die Delegation wurde im Juni 1944 durch das Ghetto geführt. Kinder mussten vor dem letzten Lagerkommandanten, Karl Rahm, einen Text aufsagen, in dem sie sich darüber beschwerten, dass es schon wieder Sardinen gab. In Wirklichkeit gab es im Lager nie Sardinen. Es gab Brot und Graupen und Kartoffelschalen und immer viel zu wenig. Der Besuch des Roten Kreuzes bestätigte anschließend die Illusion. Wobei dieser Besuch noch heute in einem irritierendem Licht steht, der Leiter der Delegation äußerte sich 1979 in einem Interview mit Claude Lanzmann nahezu antisemitisch, die deutschen Vertreter dürften diesem Verdacht gleichfalls nahestehen und die beiden Dänen wirkten an dem Bericht nicht mit. Von daher kam auch in einer Gesprächsrunde die Frage auf, was denn selbst ein kritischer Bericht hätte bewirken sollen. Die Existenz von Auschwitz war zu diesem Zeitpunkt in Teilen der relevanten Weltöffentlichkeit bekannt, wer hätte wie eingreifen sollen? Letztlich aber konnten noch vor der Befreiung des Ghettos die dänischen Juden über Schweden ausreisen. Inwiefern dies mit der Delegation zusammen hängt, konnten wir nicht abschließend klären. Wobei im April 1945 noch eine weitere dänische Delegation des Roten Kreuzes das Ghetto besuchte.

Die verschönerte Stadt hingegen diente wenige Wochen später als Drehort für einen von den Nazis geplanten Propagandafilm mit dem heutzutage bekannten Titel: „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt – Bericht aus einem jüdischen Siedlungsgebiet“. Regie musste Kurt Gerron führen, ein bekannter Regisseur, der im Lager ebenso eingesperrt war, wie etliche Köpfe der jüdischen Kulturelite. Die Darsteller aber waren ausschließlich jüdische Häftlinge, die extra für die Aufnahmen besser ernährt wurden, um wohlgenährte adrette Menschen im Bild zu zeigen. Die erhaltenen Aufnahmen zeigen Menschen beim Gärtnern, beim fröhlichen Arbeiten, nach Feierabend, bei Kulturveranstaltungen, beim Fußball oder im privaten Raum. Dies alles gab es im Ghetto. Aber unter gänzlich anderen Bedingungen. In Wirklichkeit waren die Menschen abgezehrter, krank, verzweifelt, traurig, irrsinnig, es war eng und stickig, es war zu kalt und zu heiß, Ungeziefer plagte die Elendsgestalten, Leichen wurden durch die Gassen transportiert, verfaulte Essensreste aus Eimern gekratzt. Film ist immer illusionär, hier war er die Illusion der Illusion. Eine gigantische und zynische Lüge, mit der Konsequenz, dass nahezu alle der jüdischen Beteiligten kurz nach den Aufnahmen nach Auschwitz deportiert und vergast wurden. Die Nazis wussten dies schon vor Beginn der Dreharbeiten, die Juden nicht.

Ich wandre durch Theresienstadt. Vorbei an der Aussiger Kaserne, eingelassen in den Festungswall. Von dort führt eine Treppe auf die begrünten Wälle, von hier siehst du die Wälder Nordböhmens besonders gut. Zu Beginn des Jahres 1942 wurden an diesem Ort im Januar und Februar 16 Häftlinge wegen nichtiger Vergehen zur Abschreckung gehängt. Vielleicht war der Blick über die Hügel ihr letzter.

Weiter unten im Park sammelt eine Mutter mit ihrem Mädchen Kastanien. Eine Tasche steht bereit, die schönsten wandern hinein. Selbstvergessen im Augenblick suchen die Augen der Kleinen die besten Stücke, vielleicht basteln sie zuhause in der warmen Stube kleine Männchen, sie weiß vermutlich nichts von der Vorgeschichte des Ortes, von den sich im Tod auflösenden Träumen der 10 – 15.000 Kinder, die zwischen 1942 und 1945 hier leben mussten. Überleben mussten, um doch getötet zu werden. Gerade die erhaltenen Zeichnungen und Gedichte der Kinder geben ein trauriges Zeugnis der im Zwiespalt zwischen dem Erinnern ihrer friedlichen Vergangenheit, der Erfahrung der bedrückenden Gegenwart und dem sehnsüchtigen Traum von der Freiheit, dem Wunsch nach Hause zurück zu kehren, gefangenen Kinder. Ihre Träume endeten in Auschwitz, die Sehnsucht im Gas. Die Anzahl der überlebenden Kinder ist verschwindend gering, Sonny war eines von ihnen, er hatte Glück – auch weil bei seiner Ankunft im Ghetto im Februar 1945 Auschwitz schon befreit war.

In einer der wenigen Wirtschaften im Ort esse ich zu Abend. Das Essen ist nicht besonders gut, aber im Gegensatz zu dem, was die Häftlinge hier bekamen ein nicht zu begreifender Luxus. Über dem Ort lastet etwas schwer, viele Menschen wirken bedrückt, das Lachen ist hier nicht zu Hause, womöglich hinter verschlossenen Türen. Vielleicht ist es der Geist des Ortes, vielleicht sind es die Fremden, die wie wir hierher kommen und wieder einmal Räume in Beschlag nehmen, die uns eigentlich nicht gehören und Menschen an etwas erinnern, an das sie vielleicht nicht erinnert werden wollen, weil sie mit damals nichts zu schaffen hatten und einfach hier wohnen. Vielleicht ist es Armut. Ich weiß es nicht, aber es wirkt.

Gegen 21 Uhr kommt der Bus aus Frankfurt an, Rollkoffer werden ausgeladen, Zimmerschlüssel verteilt. Niemandes Gepäck wird durchsucht, die Räume sind komfortabel, das Abendessen steht bereit, reichhaltig, für jeden und jede ist etwas dabei. Anschließend stellen wir das Programm der nächsten Tage vor und wandern vor dem ersten Bier im dunklen Abend zum Geldautomaten an der einstigen SS-Kommandantur. Sonny ist erstmals nach 74 Jahren wieder auf den Straßen Theresienstadts unterwegs. „Hier war ich,“ sagt er. „Oder hier?“ Er dreht sich in alle Richtungen. „Ich bin verwirrt“ sagt er. Ja.

12. Oktober 2019

Nach einem reichhaltigen Frühstück und der Klärung einer organisatorischen Dinge, treffen wir uns im Gruppenraum. Viele Eintrachtler kennen sich seit Jahren, hier ist Uli Matheja, der das grundlegende Buch über die Eintracht, „Schlappekicker und Himmelsstürmer“, veröffentlicht hat, dort sitzt Helga, die sich schon lange mit der Geschichte des Faschismus und dem Widerstand beschäftigt, Gabi, Basti und Norman vom Fanprojekt sind mit dabei und mit Stefan Minden auch der Vizepräsident des Vereins. Andere sind über das Projekt zu uns gestoßen, haben die Veranstaltungen des vergangen Jahres besucht. Ein jeder, eine jede mit einer anderer Geschichte, einem individuellem Zugang. Und über allem kreist der Adler der Frankfurter Eintracht.

Vorträge

Wir beginnen vor Ort mit einem Vortrag von Martin Liepach vom Fritz Bauer Institut, der uns dankenswerter Weise als pädagogischer Leiter zur Verfügung steht und schon mehrfach mit jungen Leuten hier vor Ort gewesen ist. Er führt die Gruppe in die grundlegende Geschichte des Nationalsozialismus ein, von der Gründung der NSDAP über die Machtübernahme im Januar 1933, schildert die Rolle des Reichtagsbrandes, in dessen Folge die Strukturen für eine umfassende Machtfülle gelegt wurden über die Nürnberger Gesetze, welche diese Macht legitimieren sollte, wie alles von den Nazis gesetzlich verankert wurde. Auch die Ausgrenzung, die Beraubung und die Vernichtung der Juden. Er spricht von den ersten Konzentrationslagern wie in Dachau bereits im März 1933, vorwiegend für politische Gefangene, von der schleichenden Ausgrenzung der Juden. Final wurde die Auslöschung des Judentums, der Juden, auf der Wannsee-Konferenz 1942 in Potsdam organisiert, beschlossene Sache aber war die Ausrottung schon zuvor.

Anschließend darf ich einen Vortrag über das Ghetto selbst halten, über die Geschichte und das Wesen eines Lagers, welches in unglaublich perfider und zynischer Weise ein sehr eigener Teil der Shoa war. So genügten keine 30 SS-Leute, um das Ghetto final zu überwachen und für die NS zu strukturieren. Durch die Besonderheit der jüdischen Selbstverwaltung oblag der Zwangsgemeinschaft ihre eigene Vernichtung in den eignen Händen. So teilte der jeweilige SS-Lagerkommandant dem Judenältesten stets die Anzahl der abgehenden Transporte sowie die Anzahl der zu deportierenden mit. Bis auf wenige Ausnahmen, in denen die SS bestimmte, wer zu fahren hatte, musste der Judenälteste mit dem Ältestenrat die Transportlisten selbst zusammen stellen. 1000. 2000. 5000 Menschen. Ihr Schicksal lag nun zwangsweise in den Händen derer, die als inhaftierte Opfer der Verfolgung nun über ihre Leidensgenossen zu entscheiden hatten. Wurde einer vom Transport befreit, rückte ein anderer nach. Die Zahlen mussten stimmen. Welch tragische Schuldverstrickung, welch Ausweglosigkeit – welch Zynismus.
Über die Rolle der Judenältesten ist viel debattiert worden, über Zwangslage und Schuld. Der erste Judenälteste, Jakob Edelstein, wurde im November 1943 auf Grund vermeintlicher Unstimmigkeiten über die Anzahl der Häftlinge verhaftet, nach Auschwitz deportiert und im Juni 1944 erschossen, nachdem er den Mord an seiner Frau mit ansehen musste. Ihm folgte Paul Eppstein, auch er wurde verhaftet, nachdem er vorgeblich einen Weg betreten hatte, der für ihn nicht vorgesehen war. Sein Leben endete im September 1944, als er in der Kleinen Festung erschossen wurde. Der letzte Judenälteste wurde Benjamin Murmelstein, er erlebte die Befreiung, wurde angeklagt und fand anschließend in Rom ein weiteres Exil, ausgestoßen von der jüdischen Gemeinde.

Nach den Vorträgen und kurzer Diskussion erkundete die Gruppe erstmals den Ort. Aufgeteilt in vier kleinere Gruppen bestand die Aufgabe darin, anhand eines Planes sich zu orientieren, vier Orte aufzusuchen und Texte dazu zu studieren. Die ausgewählten Orte waren die Dresdner Kaserne, das Kinderheim L 417, der Sitz des heutigen Ghettomuseums, die SS-Kommandantur sowie ein Prominentenhaus. Der Prominentenstatus spielte im Ghetto eine gewichtige Rolle. Die NS definierte den Prominentenstaus A. Kriegsteilnehmer und besondere Persönlichkeiten zählten dazu. Sie erhielten bessere Verpflegung, günstigere Lebensbedingungen und waren zunächst vor Transporten geschützt. Nicht zuletzt um bei kritischen Nachfragen, die vermeintliche Bestimmung des Ghettos als Altersruhesitz nachzuweisen. Der Prominentenstatus B wurde vom Ältestenrat selbst vergeben. Dieser schützte nicht vor den Transporten, bot aber bessere Lebensbedingungen. Natürlich kämpften die Häftling um die Anerkennung eines solchen Status, Neid und Missgunst erwuchsen zur diebischen Freude der Nazis. Faktisch bewacht wurde das Ghetto durch tschechischeGendamerie, die regelmäßig ausgetauscht wurde, um allzu große Nähe zu den Häftlingen zu vermeiden.

Führung durch die Große Festung

Nachmittags steht die Führung durch die Große Festung an. Unser Guide Pavel nimmt die Gruppe an die Hand, erzählt Geschichten aus dem Ghetto, führt uns zum großen Marktplatz, der für die Juden nicht zu betreten war, wie auch der Bereich des Kameradschaftsheims für Juden gesperrt blieb. Bürgersteige im Ort waren den wenigen Nazis vorbehalten, die Häftlinge selbst mussten auf der Straße laufen und die Nazis ehrerbietig grüßen. Leichenwagen bestimmten das Straßenbild, in hölzernen Särgen, die von den Häftlingen selbst produziert wurden, wurden die Erlösten zur Leichenkammer gefahren, Hunderte zuweilen an einem einzigen Tag. In der ersten Zeit wurden die Verstorbenen einzeln beerdigt, später dann in Massengräbern, bis ihre Verwesung das Grundwasser gefährdete. Im September 1942 von den Häftlingen fertig gestellten Krematorium wurden die Verstorbenen dann verbrannt, die Asche im Kolumbarium aufbewahrt, bis der drohende Zusammenbruch der NS-Diktatur die SS veranlasste, alle Spuren ihres verbrecherischen Daseins zu beseitigen. In einer Nacht- und Nebelaktion mussten die Häftlinge die Urnen selbst an die Eger bringen und die Asche einige hundert Meter außerhalb des Ghettos in den Fluss schütten. Vater, Mutter, Kinder, Freunde, Leidensgenossen wurden von den noch Lebenden zwangsweise einer weiteren Demütigung preisgegeben, noch nicht einmal ein Ort der Erinnerung sollte bleiben. Gedemütigt die Lebenden, gedemütigt noch die Toten.

In einem unscheinbaren Haus auf dem Weg zu den Gleisen befand sich die Bäckerei für die NS. Wer hier arbeitete, war privilegiert, wohnte ein paar Schritte weiter oben etwas geräumiger als die meisten anderen. Die Bäcker nutzen ihr Privileg und richteten in den Räumlichkeiten eine Synagoge ein, zunächst illegal, später von der NS geduldet. Zeichnungen und Motive an den Wänden legen noch heute ein Zeugnis ab, von der Zeit, in der die Häftlinge hier dicht an dicht standen und sich Mut und Trost und Hoffnung zusprachen.

Eine zentrale Rolle der Erinnerung spielt heute die Magdeburger Kaserne. Sie beherbergt eine große Ausstellung über Kultur im Ghetto, Kultur gegen den Tod. Hier hatten damals der Ältestenrat und Judenältesten Büros und Stuben, hier fanden wie an anderen Orten auch Kulturveranstaltungen statt, hier zeichneten die Maler Plakate und illustrierten die Tagesbefehle.

Die Führung führte am Kolumbarium vorbei. Dort werden heute einige Urnen in einem Gedenkraum aufbewahrt, Gedenktafeln an den Wänden künden von der Trauer der Hinterbliebenen. Auch wir von der Frankfurter Eintracht haben eine Tafel im Gepäck. Am Montag werden wir sie vor Ort anbringen – und kollektiv der Opfer des Nationalsozialismus gedenken.

Abends sitzen wir zusammen, reden, diskutieren. Sonny berichtet aus seiner Zeit im Ghetto, schildert seine Lebensgeschichte, zuweilen kullern die Tränen, zuweilen lacht er, erinnert sich beim Reden an die Zeit vor der Deportation, als er, der im Dom Frankfurts christlich getauft wurde Messdiener im Dom war und urplötzlich als Jude definiert wurde, womit er nichts anzufangen wusste. Die Mutter war Jüdin, der Vater unbekannt. Sein Stiefvater, Vater seiner Schwester, versuchte ihn vor der Deportation zu schützen, eine Adoption scheiterte am Geld. Und so durchlitt der kleine Helmut alle Stationen der Ausgrenzung, wurde von seinen Eltern getrennt in verschiedene jüdische Heime gesteckt, verstand den Hebräischunterricht nicht und verbrachte nach Auflösung der Heime seine Zeit in der elterlichen Wohnung. Vorsichtig verließ er Samstags die Wohnung, den aufgenähten Davidsstern unter dem Mantelkragen versteckt, um ins Kino zu gehen. Diese Besuche, nahezu unter Lebensgefahr, brachten die einzige Abwechslung in das Dasein eines Jungen, der sogar auf die Schule verzichten musste. Und als wäre dies alles noch nicht genug, ereilten ihn und seine Mutter der Aufruf zum Transport XII/10 am 14. Februar 1945. Nach einer mehrtägigen Irrfahrt erreichten sie Theresienstadt am 18. Februar.

Heute finden sich die Namen von ihm und seiner Mutter im großen Buch derer, die Theresienstadt durchlitten haben. „Seht her, hier steht es, es war wirklich wahr“, sagt er und wird wütend als es darum geht, dass es auch heute noch Menschen gibt, die den Holocaust leugnen. Mit der Befreiung des Ghettos durch die Rote Armee am 8. Mai 1945 endete seine Leidenszeit im Ghetto zunächst noch nicht. Durch die Ankunft der Todesmärsche der befreiten Konzentrationslagern im Osten drohte eine neue Gefahr. Geschunden, am Ende ihrer Kräfte und todkrank kamen Tausende aus den Vernichtungslagern, eine Typhusepidemie drohte dem Lager, und so kamen Sonny und seine Mutter in Quarantäne, bis sie nach einer mehrtägigen Odyssee im Juli 1945 zurück im zerbombten Frankfurt landeten. Der nunmehr 14jährige wog 48 Pfund. An den Folgen der Deportationen hat er bis heute zu leiden. Für ihn aber habe sich nun ein Kreis geschlossen sagt er. Trotz großer Zweifel hat er die Fahrt angetreten, sich mit seiner Vergangenheit konfrontiert und möglicherweise die Geschichte zwar nicht beendet, aber womöglich befriedet.

13. Oktober 2019

Unser Weg führt uns heute in die Kleine Festung, vor allem zu Zeiten des real existierenden Sozialismus der einzige Ort der Erinnerung, derweil das jüdische Ghetto erst nach Ende der Sowjetunion und dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes in den Focus der Erinnerungskultur rückte. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Kleine Festung überwiegend als Gefängnis für politische Gegner der NS und Widerstandskämpfer diente, ergo auch für kommunistische Antifaschisten, deren Gefangenschaft im Osten vorwiegend zum Thema der Geschichtsbetrachtung gemacht und zuweilen auch überhöht wurde. Jüdische Häftlinge kamen schon bei kleineren Vergehen von der Großen in die Kleine Festung, für sie bedeutete dies eine weitere Ebene der Hölle, die noch höllischer war als die Hölle der politischen Gefangenen.

Die Kleine Festung

Blau leuchtet der Himmel, grün das Gras während die Eger gemächlich im Licht der Herbstbäume zur Elbe hin mäandert. Auf dem Parkplatz vor dem Friedhof parken einige Autos, Imbissbuden haben geöffnet. Wir erkennen ein großes Kreuz, dahinter den Davidsstern vor den Mauern der Festungsanlage. Am Eingang erwartet uns wieder Pavel, der uns schon gestern durch die Große Festung führte und uns auch heute sachkundig begleitet. Und jetzt fällt mir auf, dass er auch schon 2016 mein Guide war und mich durch die Festung begleitete.

27.000 Männer und 5.000 Frauen wurden von der Gestapo zwischen 1940 und 1945 in die Kleine Festung überführt. Sie wurden registriert und auf engstem Raum gehalten, auch hier waren die hygienischen Bedingungen unerträglich. In der Gemeinschaftszelle gab es für 60-100 Mann eine Toilette ohne Wasser, auch das Waschbecken wurde montiert, ohne es an die Leitung anzuschließen. Tagsüber zu Arbeitseinsätzen beordert, mit wässrigen Gemüsesuppen und Kaffeeersatz mehr am Sterben als am Leben gehalten vegetierten Männer und Frauen getrennt. Am schlimmsten hatte es auch hier die jüdischen Häftlinge erwischt. 70 von ihnen waren in einem 20qm Raum eingeschlossen, Dunkelheit umgab sie, das Essen war noch schlechter, noch weniger, die Luft unerträglich. Um eine winzige Luftzirkulation zu ermöglichen, mussten sie laufen, wer einschlief wurde mitgeschleift, dies alles nach einem kräftezehrenden Arbeitseinsatz. Und wenn sich die Türe zur Befreiung öffnete, erwartete sie Auschwitz.

Lagerkommandant war Heinrich Jöckel. Sie nannten ihn Pinda, Knirps. Nach der Befreiung musste er acht Monate alleine in dieser Zelle verbringen, anschließend wurde er hingerichtet, in der Kleinen Festung gehenkt. Manchmal gerät auch die Ablehnung der Todesstrafe an Grenzen. Sichtbar erleichtert die Gruppe, als wir den Raum ohne Heizung, ohne Wasser verlassen.

Vor allem in der Kleinen Festung waren die Häftlinge der Willkür der Leitung und deren Schergen, ihrem Sadismus, gnadenlos ausgesetzt, hier gab es keine Selbstverwaltung, keinen Freiraum. Und dennoch wurde sogar auch hier komponiert, kleine Gegenstände produziert und immerhin drei Häftlingen gelang Ende 1944 sogar die Flucht, als sie ein Trinkgelage der Wärter und eine nicht verschlossene Tür ausnutzen konnten. Andere belegte Fluchtversuche endeten tragisch und wurden mit Folter und Tod bestraft.

Wir lauschen Pavel, durchwandern einen langen unterirdischen Gang, an dessen Ende wir den Hinrichtungsort erblicken. Ein Galgen, neuerer Zeit dort montiert, erinnert an die dortigen Opfer. Nebenan wurde Paul Eppstein erschossen. Die SS wohnte im Herrenhaus, badete im Pool gegenüber und erniedrigte die Häftlinge Tag für Tag. Den Tag der Befreiung erlebten von 32.000 Häftlingen letztlich keine 5.000. Alle anderen wurden ermordet, starben an Auszehrung und Krankheit oder wurden nach Auschwitz deportiert.

Auch in der Kleinen Festung gibt es heute ein Museum und ein Kino. Wir sehen den Film „Die geschenkte Stadt“ von 1965. Er enthält Szenen aus dem Propagandafilm, konterkariert mit den Zeichnungen der Theresienstädter Maler, die das Ghetto überlebten und heute die einzig sichtbaren Bilder einer Wirklichkeit sind, die grausamer nicht sein konnte. In unbeobachteten Momenten nutzten sie die Gelegenheit und fertigten neben Auftragszeichnungen Bilder an, die den Zustand des Ghettos beschreiben, die unwürdigen Verhältnisse dokumentieren. Die meisten von ihnen bezahlten ihren Mut mit dem Leben. Und während wir die Filmbilder sehen, dokumentiert eine Stimme die abgehenden Transporte, die Anzahl der Transportierten und die Anzahl der Überlebenden. Eine furchtbare Diskrepanz.

Die Museen

Nachmittags steht der Besuch der beiden Museen in der Großen Festung an. Wir besuchen zuerst die Dauerausstellung in der Magdeburger Kaserne. Auf dem Weg dorthin erkennen wir noch hie und da die alten Straßenbezeichnungen. L steht für Längsstraßen, Q für Querstraßen. Die folgende Nummer bezeichnet das jeweilige Gebäude. Im Rahmen der Verschönerungsaktion erhielten die Straßen deutsche Namen. Seestraße oder Bahnhofsstraße – obgleich es weder einen See, noch einen Bahnhof gab. Manche Häuser sind mit Blumenkästen geschmückt, Kinder laufen umher. Von Zeit zu Zeit knattert ein Motorrad durch den Ort. Menschen warten auf den Bus.

Die Magdeburger Kaserne ist heute renoviert, empfängt die Besucher in mildem Gelb. Im Erdgeschoss wartet ein Souvenirshop auf Kundschaft, bietet Bücher und Devotionalien an, das erste Stockwerk beherbergt die Dauerausstellung über die Kulturschaffenden. Zu Beginn illegal, später von der SS geduldet und zuweilen sogar goutiert, entwickelte sich im Rahmen der offiziellen Freizeitgestaltung neben der verpflichtenden Arbeit ein reiches Kulturleben. Vorträge, Theaterstücke, Dichterlesungen, musikalische Darbietungen erleichterten den Häftlingen den Aufenthalt im Ghetto. Illegal blieben selbstverständlich weiterhin Gedichte oder Zeichnungen, die den Alltag im Ghetto thematisierten.

Bevor wir die Ausstellung betreten, kommen wir an einem Nachbau einer Unterkunft vorbei und erahnen, wie die Unglückseligen hier auf engstem Raum hausen mussten. Dicht an dich stehen die dreistöckigen Betten, umgeben von den wenigen Habseligkeiten, die ihnen geblieben sind. Besonders beeindruckend ist die traurige Geschichte um die Theresienstädter Maler Ferdinand Bloch, Bedrich Fritta, Leo Haas, Otto Ungar, dem Architekten Norbert Troller und dem Kunstsammler Leo Strass. Strass hatte einige Zeichnungen über die Gendarmerie nach außen schmuggeln können, diese Versuche blieben jedoch nicht unentdeckt. Zunächst wurden Troller und Strass verhaftet, kurz darauf auch die übrigen. Da jedoch Otto Zucker, Mitglied der Selbstverwaltung, von der bevorstehenden Verhaftung wusste und die Maler in Kenntnis setzte, konnten diese ihre vorhandenen Zeichnungen noch im Ghetto verstecken. Die Künstler wurden zunächst im Keller der Kommandantur verhört, später in die Kleine Festung gesteckt. Otto Ungar wurde die rechte Hand zerstört, so dass er nie wieder zeichnen hätte können, Bloch in der Kleinen Festung erschlagen. Die anderen wurden nach Auschwitz deportiert, wo Fritta und Strass starben. Ungar überlebte zwar Auschwitz, kam über einen Todesmarsch nach Buchenwald und verstarb wenige Wochen nach seiner Befreiung. Troller und Haas überlebten. Letzterem ist auch die Erhaltung der versteckten Bilder und Zeichnungen zu verdanken, da er einige Verstecke kannte. Einzig die versteckten Bilder von Ferdinand Bloch sind bis heute verschollen. Und so legen die erhaltenen Bilder Zeugnis ab, von einem Alltag des Leides, des Grausamen, der Bedrückenden Realität. Ohne diese und andere Bilder würde womöglich noch heute trotz aller Erzählungen der Propagandafilm die visuelle Darstellung Theresienstadts dominieren.

Auch Literatur spielte im Ghetto eine gewichtige Rolle – und die Texte und Gedichte bilden auf ihre Weise das Leben und Sterben im Ghetto ab. Neben der Selbsterhaltung der Künstler, dem unschätzbaren dokumentarischen Werte, lieferten Vorträge und Theaterstücke wie auch musikalische Vorträge und Aufführungen Momente der Ablenkung, der Kontemplation und des Vergessens von einem Alltag, der aus Arbeit, Hunger, Krankheiten, permanentem Verlust von Familie und Freunden, Angst vor den abgehenden Transporten, Ungeziefer und Dreck und einer immer tiefer umgreifenden Desillusion bestand.

Schwer atmend sitzen wir im Hof der Kaserne. In den Räumen weiter hinten läuft der Propagandafilm, liegen Informationen zur Entstehung aus. Anschließend brechen wir noch einmal auf, um einen Blick in das eigentliche Ghetto Museum zu werfen. Die Beine werden müde, der Kopf schwirrt. In großen Texttafeln wird die Geschichte des Ghettos erzählt, den Aufgang dominieren Kinderzeichnungen. Früher war hier das Kinderheim L 417 für tschechische Kinder. Fürsorgliche Erwachsene wie Fredy Hirsch oder Friedl Dicker-Brandeis kümmerten sich rührend um die Jüngsten, die hier in kleinen Gruppen lebten. Unterricht fand zunächst heimlich statt. Dennoch wurden hier sogar Zeitungen produziert, die bekannteste heißt Vedem – Wir führen. Die Kinder zeichneten, führten Interviews,  schrieben Gedichte und lasen sich gegenseitig aus ihren Arbeiten vor. Kaum eines der Kinder überlebte die Shoah, so wurde auch Petr Ginz, einer der klügsten Köpfe und Redakteur von Vedem, in Auschwitz ermordet. Als die Columbia 2003 zu einem Weltraumausflug aufbrach, nahm der israelische Astronaut Ilan Ramon die Kopie einer Zeichnung von Petr mit ins All. Der Titel des Bildes: Mondlandschaft. Auf dem Rückflug explodierte die Columbia, die Astronauten starben und die Zeichnung verbrannte.

Abends sitzen wir beisammen, es gibt viel zu reden. Die Gruppe versteht sich, wächst in der Erkenntnis des Leidens zusammen. Zuweilen wird natürlich beim Bier auch gelacht, Anekdoten, Erlebnisse, Eindrücke ausgetauscht. Die Jungs, die uns bedienen, haben alle Hände voll zu tun, wir sind erst die zweite größere Gruppe, die in den neu renovierten Räumen nächtigt und die Gedenkstätte besucht, die doch keine Gedenkstätte ist.

14. Oktober 2019

Heute ist der Tag, an dem wir die Gedenkplatte im Kolumbarium verlegen wollen. Zuvor hält Matze Thoma noch einen Vortrag über Eintrachtler, die Theresienstadt durchleiden mussten. Friedrich Schaffranek, Hans Rosenbaum, Max Lehmann oder die kleine Ilse Stelzer. Und natürlich Sonny. Alle Eintrachtler, die wir in Theresienstadt ausfindig machen konnten, hatten zumindest diesen Ort überlebt. Im Anschluss sehen wir uns noch einmal gemeinsam den Film „Liga Terezin“ an, der mich einst bewogen hatte, hier her zu fahren. Oded Breda hatte in diesem Film seinen Onkel Pavel beim Fußballspielen entdeckt und sich auf dessen Spuren gemacht. Auch Pavel Breda hat das Ghetto nicht überlebt. In Erinnerung an seinen Onkel schießt Oded auf dem Hof der Dresdner Kaserne einen Ball in die Luft, der hart auf dem einstigen Spielfeld aufschlägt.

Gedenken

Nach dem Mittagessen schreiten wir seltsam gelöst zum Kolumbarium. Die Sonne lacht uns an, die Gedenkplatte hängt schon, wie wir erfahren. Da dort, wo schon andere Gedenkplatten hängen, der Platz knapp geworden ist, wurde uns die Überlegung anheim gegeben, evtl. einen anderen Platz zu suchen, der Raum neben an sei noch leer. Wir aber hatten uns für einen ganz anderen Ort entschieden. Der Gedenkraum, an dem sowohl Urnen als auch die Tafeln aufgehängt sind, wird zwar von vielen oder besser eher noch zu wenigen Menschen besucht, der eigentliche Aufbewahrungsort der Urnen jedoch befand sich zu Zeiten des Ghettos in einem Gang weiter hinten, der durch einen Weg über die Festung zu erreichen und seit 2017 auch für die Öffentlichkeit zugängig ist. An einer Stelle macht der unterirdische Gang eine Biegung, Licht fällt durch ein Fenster und ein Gitter hinein und beleuchtet die Wand. Genau an dieser Stelle soll unsere Gedenkplatte hängen, nicht ob der Einzigartigkeit wegen, vielmehr ob der Authentizität. Wir hoffen natürlich, dass im Laufe der Jahre noch etliche Gedenktafeln dazu kommen, immerhin sind wir der erste Fußballverein, der diese Möglichkeit des Gedenkens nutzt. Eine große Ehre ist es, dass auch Jan Roubinek, der Leiter der Gedenkstätte der Zeremonie beiwohnt, die nach einem Gruppenbild und dem Weg durch den dunklen Gang beginnt.

Julian von der Fanbetreuung spricht die einleitenden Worte, Matze vom Museum eröffnet die Zeremonie. Die Tafel ist noch durch ein weißes Tuch verhüllt. Anschließend hält Stefan Minden eine bewegende Rede, die daran erinnert, dass die Nationalsozialisten, den zur Vernichtung bestimmten Juden drei Dinge genommen hätten. Das Vermögen. Die Würde. Das Leben. Das Leben können wir den Millionen Toten nicht wieder geben, das Vermögen konnte zu Teilen rückgeführt werden. Den Verlust der Würde aber haben all die Jahre der Verdrängung, des Verschweigens nicht zurück geben können. Es sei unsere Aufgabe, den (auch von Eintracht Frankfurt) Ausgestoßenen ein Gesicht, einen Namen und letzten Endes eine Stellung in unsere Mitte wieder zu geben. Sonny sitzt während dessen schweigend auf einem Stuhl in unserer Mitte. Anschließend enthüllten Stefan und Matze die Gedenktafel mit den Worten:

In Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, Terezin, Oktober 2019.

In der Mitte wacht der Eintracht Adler. Ein kleiner Beitrag, Geschehenes zur Erinnern, Zukünftiges aber zu verhindern. Wir platzieren Rosen auf den Boden, Helga legt Steine auf die Gedenktafel, ein jüdisches Zeichen der Trauer. Nun hängt sie dort, die Tafel der Eintracht. Als wir nach draußen gehen, kommt uns ein junges Pärchen entgegen. Sie werden die ersten nach uns sein, die diese Tafel sehen werden, die nun wie selbstverständlich hier hängt. Aber nichts ist selbstverständlich und schon gar nicht das Leben.

Nadine verteilt an uns alle Blumen, wir können sie an einem Ort unsere Wahl ablegen, einige brechen auf zur Gedenkstelle an der Eger, dort, wo die Asche in den Fluss geschüttet wurde, andere besuchen den Friedhof am Krematorium, wiederum andere machen sich auf eigene Wege.

Die gelbgrünbraunen Herbstblätter der Bäume spiegeln sich im Wasser, Radler sausen an uns vorbei, während wir in Gedanken zum Denkmal laufen. Vor Ort legen wir einige Blumen ab, manch eine wird ins Wasser gesetzt. Bevor ich in der Unterkunft ankomme, mache ich noch einen Schlenker in den Park für die jüdischen Kinder. Dort lege ich meine Blume ab. Später habe ich noch etwas Zeit, laufe zum Bauhof, von dort in die Wallanlagen. Hier planten die Nazis die Häftlinge noch gegen Ende des Krieges ihre eigene Gaskammer bauen zu lassen, die ersten Gebäudeteile waren schon errichtet. Doch es lag eine Ahnung in der Luft, die Pläne ließen eine Hermetik der Räume erahnen, so dass einige Sollbruchstellen eingebaut wurden. Fertig gestellt aber wurden die Kammern nie, die Rote Armee kam zu früh. Weiter hinten in den Bögen der Durchgänge in der Wallanlage finden sich Graffitis und Einritzungen aus Ghettozeiten. Langsam legt sich die Dunkelheit über den Tag. Ein Mann geht mit seinem Hund spazieren.

Im Herzen von Europa

Der letzte Abend ist voller Eindrücke und Dankbarkeit, wir überreichen Sonny das Buch mit den Namen aller nach Theresienstadt Deportierten. Wir haben auch unterschrieben. Sonny bedankt sich. Und umarmt seine Frau Emmi, die ihn auf der gesamten Reise begleitet hat, wie auch die 39 Jahre zuvor. Bis spät in die Nacht sitzen wir zusammen, die Emotionen brechen sich ihren Bann. Sonny ist müde, geht bald zu Bett. Und als wir so zusammen sitzen, reden, trinken, stimmen wir gemeinsam zu vorgerückter Stunde „Im Herzen von Europa an“. Kaum sind wir bei der zweiten Strophe angelangt, kommt Sonny im Schlafanzug die Treppe herunter und singt mit. Welch berührender Abschluss einer Reise, die nun zu Ende geht. Die so viele Emotionen und Gedanken weckte und so viele Erkenntnisse brachte. Und uns noch alle lange beschäftigen wird.

Danke an alle Beteiligten, namentlich an Helmut „Sonny“ Sonneberg, an Nadine und Julian von der Fanbetreuung der Eintracht und an Matze vom Museum. Wir haben gemeinsam diese Reise geplant und durchgeführt, es war ein trotz aller Tiefe entspanntes und produktives Arbeiten mit einem, wie nicht nur ich denke, großartigen Ergebnis. Danke auch an Martin Liepach für die profunde Begleitung und an Stefan Minden für die richtigen Worte zum richtigen Zeitpunkt. Und an die Teilnehmer, die diese Reise zu einem unvergesslichen Erlebnis machten. Danke!