Am Ortsausgang von Terezin Richtung Bohušovice sollen noch Reste der Gleise der nach Theresienstadt ankommenden und von hier abfahrenden Züge erhalten geblieben sein, die ich gerne sehen möchte. Züge, die ankamen spuckten Menschen aus, für die zumindest zu Beginn die Ankunft in Terezin die Hoffnung bestand, dauerhaft hier zu leben. Züge, die abfuhren, fuhren die Menschen in den Tod; in die Vernichtungslager nach Treblinka oder Auschwitz.

Über den Marktplatz und an der Kirche vorbei, laufe ich in Richtung der Gleise. Unterwegs komme ich an einem Haus vorbei, an dessen Wand ich eine Inschrift entdecke, die verkündet, dass hier auf dem Dachboden eine heimliche Synagoge gewesen sei. Mein Guide in der Kleinen Festung hatte davon gesprochen, ich solle klingeln. Da sich nebenan ein öffentliches Gebäude befindet, gehe ich hinein und spreche am Empfang vor. Doch noch ehe ich zu Ende gesprochen habe, werde ich mit den Worten, Hospital, Hospital abgewimmelt, ich gehe weiter – und erreiche nach wenigen Metern die Gleise, über die ich am Ortsausgang fast stolpere. Die Reste, sie liegen dort, ohne Hinweis, ohne besondere Pflege und sie sprechen eine stumme Sprache.

Später habe ich nachgelesen:

Am 24. November 1941 kamen die ersten Häftlinge aus Prag in Theresienstadt an. Das sogenannte Aufbaukommando sollte die Stadt für die weiteren Ankommenden vorbereiten. Die bisherigen Anwohner mussten die Stadt bis zum 30. Juni 1942 räumen. War bis dorthin das Ghetto Theresienstadt als Altersghetto deklariert, den deportierten Juden die Illusion gelassen, den Lebensabend dort verbringen zu können, so diente das Ghetto spätestens seit der auf der Wannsee-Konferenz koordinierten „Endlösung“, der beschlossenen Massenvernichtung der Juden, als Sammel- und Durchgangslager, aus dem ein Entrinnen nur durch Tod oder Deportation möglich war. Ca 140.000 Juden passierten das Ghetto, die meisten von ihnen kamen aus Böhmen und Mähren, der heutigen Tschechischen Republik und aus Deutschland sowie Österreich. Aber auch Juden aus den Niederlanden, aus Dänemark, der Slowakei sowie Ungarn wurden zunächst nach Terezin deportiert. Zudem wurden nach dem Vorrücken der Roten Armee noch über 15.000 Juden aus den aufgegebenen Vernichtungslagern von den Nazis nach Terezin „evakuiert“. Dazu kommen noch 1.260 Kinder aus Bialystok, Polen, die vom 24. August 1943 bis zum 5. Oktober dort verweilten, anschließend nach Auschwitz gebracht und vergast wurden.

Von den knapp 87.000 in die Vernichtungslager im Osten deportierten Juden überlebten 3.586. In Theresienstadt selbst starben über 35.000 Menschen. Noch vor der Befreiung entkamen 1.623 Personen nach Schweden oder in die Schweiz. 701 Personen waren geflüchtet. Am 9. Mai 1945 befanden sich in Theresienstadt noch 16.832 Personen, von denen die Hälfte nach dem 28. Oktober 1944, dem Tag der Abfahrt des letzten Zuges nach Auschwitz, nach Theresienstadt gekommen sind. Meistens „lebten“ im Ghetto zeitgleich zwischen 30.000 und 40.000 Menschen. Am 18. September 1942 „lebten“ im Ghetto 58.497 Personen. In der Vorkriegszeit betrug die Bevölkerungsanzahl inklusive Soldaten 7.000.

Und für fast jeden der über 150.000 Menschen, die hier ankamen und für alle, die das Lager verließen, spielten diese Gleise eine entscheidende Rolle in ihrem Leben. Wieviele bange Blicke, wieviel Neugier, wieviel Angst hat dieser Ort gespürt. Ich sehe mich um und sehe die Bilder, die sie gesehen hatten, mit den Augen von heute, mit dem Wissen, kommen und gehen zu können, wie ich möchte.

Durchatmen.

Es ist immer noch viel zu wenig, was ich begreife. Im Gegenteil, ich begreife immer weniger. Die Organisation des Alltages, die Kommunikation, der Wissenstand um die Verhältnisse, die Entscheidung, wer wann wohin geschickt wird. Das Verhalten untereinander auf engstem Raum, in dem krepiert wird.

Eine weitere Ausstellung gibt es in der Magdeburger Kaserne, dem einstigen Ort der jüdischen Selbstverwaltung, die natürlich nur bedingt eine war. Auf dem Weg dorthin komme ich an der ehemaligen Bäckerei vorbei. Der Eingang ist durch ein Tor verschlossen, daneben hängt ein Schild: Museum. Ich öffne das Tor, gehe in den halbrunden Hof. Türen sind verschlossen, einen weiteren Hinweis auf das Museum finde ich nicht. Ich habe Hunger, den ganzen Tag nichts gegessen. Doch wieviel Hunger hatten die hier Seienden denke ich und verschiebe das Essen auf später, privilegiert wie ich bin, kann ich das.

Ich verlasse die Bäckerei und orientiere mich anhand des Lageplans in Richtung der Magdeburger Kaserne, zeige mein Ticket und betrete den Ort. Wie so oft den ganzen Tag über bin ich auch hier alleine. Hier in der Kaserne dominiert eine große Ausstellung über Kunst und Kultur des Lagerlebens. Zudem verdeutlicht ein Nachbau eines Raumes die Enge der Verhältnisse. Mehrstöckige Betten, in denen jeweils mehrere Personen darbten, dominierten den Raum; die Vorstellung, dass zig Personen hier hausten, die Kälte oder drückende Hitze, die Krankheiten und das Siechen, das sich erahnen lässt raubt den Atem. Und doch ist alles nur nachgestellt, die Schuhe, die auf dem Boden stehen, die Kleidung, die Gegenstände, die gestapelten Koffer. Von den Kellern bis zu den Dachböden hausten die Elenden, die absichtlich Verelendeten Haut an Haut. Wenn Fahrzeuge im Ghetto zu sehen waren, so waren es die Kutschen der Toten, gezogen von Lagerinsassen, gleichfalls dem Tod geweiht. Vielleicht waren diejenigen die traurigsten, die mit den größten Hoffnungen hierher kamen; die Alten, die gedacht hatten, hier ihren Lebensabend in Würde verbringen zu können und nun dem dämmernden Tod geweiht waren. Verbittert, krank und entwürdigt.

Sowohl für Kinder als auch für Erwachsene spielte Kunst und Kultur eine bedeutende Rolle im Ghetto – und noch heute bezeugen Zeichnungen und Schriften den Alltag der Menschen, einen Alltag, dessen Erscheinungsbild von den Nazis geheim gehalten werden sollte. Es sind die Zeichnungen, die Schriften, die gemeinsam mit den Erzählungen der Überlebenden von einer grauenhaften Wirklichkeit künden. Sie wurden versteckt oder geschmuggelt und konnten so vor den Nazis gerettet werden, deren Propagandafilm ansonsten die einzigen Bilder geliefert hätte. Spielend in Kulissen, die von den jüdischen Insassen in „Verschönerungsaktionen“ selbst gefertigt werden mussten. Finanziert durch Geld, das den Juden geraubt wurde. Dargestellt und produziert unter Zwang von Menschen, die anschließend deportiert wurden, man kann es nicht oft genug wiederholen.

Einer der später ermordeten Künstler war Leo Strauss, dessen Lied „Die Stadt Als-ob“ in Terezin geschrieben wurde. Auf nahezu unheimliche leichte Weise dokumentiert es die Diskrepanz zwischen der Illusion und einer Wirklichkeit.

Die Stadt Als-ob…

Ich kenn ein kleines Städtchen
Ein Städtchen ganz tiptop,
Ich nenn es nicht beim Namen,
Ich nenns die Stadt Als-ob.

Nicht alle Leute dürfen
In diese Stadt hinein,
Es müssen Auserwählte
Der Als-ob-Rasse sein.

Die leben dort ihr Leben,
Als obs ein Leben wär,
Und freun sich mit Gerüchten,
Als obs die Wahrheit wär.

Die Menschen auf den Straßen,
Die laufen im Galopp –
Wenn man auch nichts zu tun hat,
Tut man doch so als ob.

Es gibt auch ein Kaffeehaus
Gleich dem Café de l’Europe,
Und bei Musikbegleitung,
Fühlt man sich dort als ob.

Und mancher ist mit manchem
Auch manchmal ziemlich grob –
Daheim war er kein Großer,
Hier macht er so als ob.

Des Morgens und des Abends
Trinkt man Als-ob-Kaffee,
Am Samstag, ja am Samstag,
Da gibts Als-ob-Haché.

Man stellt sich an um Suppe,
Als ob da etwas drin,
Und man genießt die Dorsche
Als Als-ob-Vitamin.

Man legt sich auf den Boden,
Als ob das wär ein Bett,
Und denkt an seine Lieben,
Als ob man Nachricht hätt.

Man trägt das schwere Schicksal,
Als ob es nicht so schwer,
Und spricht von schönrer Zukunft,
Als obs schon morgen wär.

Ein weiterer Künstler, der in Auschwitz ermordet wurde, war Bedřich Fritta, der in Terezin Leiter des Zeichensaales der Technischen Kanzlei war und heimlich Zeichnungen des Alltages produzieren konnte. Als die Gestapo einige der Zeichnungen entdeckte, wurde er gemeinsam mit Leo Haas im Juli 1944 zunächst in der Kleinen Festung inhaftiert, bis er in einem der letzten Züge nach Auschwitz deportiert und wenig später dort ermordet wurde.

In Theresienstadt wurde nicht nur gezeichnet oder Literatur produziert. Musik, Theaterstücke und sogar eine Kinderoper „Brundibár“ sorgten für kurze Momente der Ablenkung, auch wenn die meisten Darsteller kurz nach den jeweiligen Aufführungen ermordet wurden. Zudem dienten die Aufführungen dem Propagandafilm.

Im Hof der Magdeburger Kaserne ist ein weiteres Kino untergebracht, auch hier wird der Film gezeigt, leider ohne kritische Begleitung. Zur Aufführung kam der Film nur wenige Male, keineswegs jedoch im Deutschen Reich.

Tatsächlich gibt es vier belegte Aufführungen des fertigen Films: Die erste fand Ende März oder Anfang April im Czernin-Palast in Prag statt (Sitz des Staatsministers im =>Reichsprotektorat Böhmen und Mähren, =>Frank). Dies war eine private Vorführung für =>Frank und eine Reihe hochrangiger SS-Offiziere (=>Rahm und =>Günther waren ebenfalls dabei).

Die anderen drei Vorführungen galten Repräsentanten ausländischer Organisationen, die mit den Nazis über die Rettung der Konzentrationslagerhäftlinge verhandelten.

Neben dem sarkastischen Titel: Der Führer schenkt den Juden eine Stadt, fungierte er auch unter dem Namen: Theresienstadt – Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet, obgleich es sich selbstverständlich weder um einen Dokumentarfilm, geschweige denn um ein freiwilliges Siedlungsgebiet handelte.

Mittlerweile ist es dunkel geworden. Ich sitze im Hof der Kaserne und rauche. Als ich den Hof verlasse und die gegenüberliegende Straße fotografieren möchte, vermisse ich meine Kamera – aber ich habe Glück. Die Frau, die den Saal betreut, ist im Begriff, ihn für heute zu schließen, noch aber ist geöffnet – und ich finde meinen Apparat auf dem Stuhl, auf welchem ich eben noch den Film gesehen habe. Noch ein Weilchen schlendere ich durch die Straßen, dann mache ich mich auf dem Weg nach Litoměřice, meiner derzeitigen Heimat. Hunger mengt sich mit Gedankenfetzen, an einer Haltestelle fährt ein Bus ab, den ich jedoch verpasse. Ich laufe ein paar Meter und entdecke ein kleines Restaurant. Ich sitze, trinke, esse und rauche gleichzeitig. Dann laufe ich wieder los, lasse die Festung hinter mir, muss auf der Landstraße auf die entgegenkommenden Autos achten und überquere die Elbe. Der Marktplatz liegt ruhig in der Dunkelheit.

Spät am Abend in einer Kneipe sitze ich beim Bier, betrachte die Fotos und blätter in meinem neuen Büchlein. Dort erfahre ich noch die Lage der Leichenhalle, des Kolumbariums und des Krematoriums, für das es heute zu spät geworden ist. Und je länger ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir, dass ich morgen noch einmal dort hin muss. Diesmal werde ich den Wagen mitnehmen, denn wenn es in Terezin etwas gibt, dann sind es Parkplätze. Und von dort wird mich dann mein Weg nach Auschwitz führen. Es ist ein seltsamer Gedanke – da ich weiß, dass ich frei und unabhängig fahren werde.

Teil I

Teil II